Renate Solbach: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 3/7
Hannah las weiter. Die Weissagung wurde häufig auf eine weibliche Seelenhaltung gegründet, auf die Fähigkeit im Unbewussten unterzutauchen, ohne sich darin zu verlieren. Hannah grinste. Bei diesen Worten konnte es sich kaum um die korrekte Wiedergabe einer antiken Auffassung handeln. Das Unbewusste war eine Erfindung der Moderne. Begreift man es aber als innere ›Natur des Menschen‹, als nicht Überformtes, Ursprüngliches, dann heißt Weissagen in direkter Verbindung mit einem Absoluten stehen. Wieder musste Hannah grinsen, die Formulierung im Unbewussten unterzutauchen, ohne sich darin zu verlieren war tückisch. Was hier als Fähigkeit verkauft wurde, war nach den gängigen geschlechtsspezifischen Zuschreibungen eine Unfähigkeit, ein im Kern Unberührtsein des Weiblichen von der Ratio, das es erlaubte, im Unbewussten wie ein Fisch im Wasser zu schwimmen. Sie trägt das Gesetz, das den Stoff durchdringt, in sich. Im Alltag sah das dann ganz anders aus.
Die Unterscheidung zwischen weiblichem als intuitiv, ekstatisch, unbewusst, verstandenem und männlichem bewusst, rational und künstlich agierendem Sehertum findet sich durch die Zeiten, sagen wir von Cicero bis Bachofen oder wen immer man als Zeugen benennen möchte. Die Weiblichkeitsideologie unserer Tage huldigt dieser Unterscheidung begeistert. Als ›indigenes Wissen‹ anderer, noch als ursprünglich angesehener Kulturen, wird es reimportiert ins europäische weibliche Bewusstsein. Man oder besser frau lese sich ein, in die Texte einschlägiger Autorinnen, die diese Sicht der Dinge mit der bekannten, von Hannahs Geschlechtsgenossinnen geschätzten Verve und dem entsprechenden Temperament vertreten und im Erzählen ausmünzen.
   © Acta litterarum 2009