Renate Solbach: Camera inversa
| Klytämnestras Gefangene 3/8
Um
noch einmal zum Beginn der Überlegungen zurückzukehren, dem
Ohrenauslecken durch die Schlangen: da gibt es eine gewisse nicht
von der Hand zu weisende sexuelle Konnotation. Bei Kerényi las Hannah: Eine
andere Geschichte von der Erblindung des Teiresias hatte den gleichen
Sinn: auch darin erblickte er etwas, was er nicht hätte erblicken
dürfen. Es wurde erzählt, dass er als junger Hirte an einer Wegscheide
am Kithairon – oder am Berg Kyllene, in der Gegend wo Hermes mit dem
Schlangenpaar an seinem Stabe zuhause war – zwei Schlangen bei der
Paarung sah. Das Abenteuer, von dem man glauben würde, dass es im Leben
der Hirten in Griechenland nichts Außergewöhnliches war, musste für die
alten Zeiten eine besondere Bedeutung haben, wenn es für die späteren
zum Ausgangspunkt eines wahren Götterscherzes wurde. Teiresias hatte,
so heißt es, das paarende Schlangenweibchen getötet und wurde im selben
Moment selbst zum Weib verwandelt. Als Frau lebte er in den folgenden
sieben Jahren und erfuhr die Liebe des Mannes. Nach sieben Jahren
erblickte er wieder ein liebendes Schlangenpaar. Jetzt traf er mit
seinem Schlag das Männchen und wurde sogleich zum Mann
zurückverwandelt. Damals stritten Zeus und Hera miteinander, ob das
männliche oder das weibliche Geschlecht mehr von der Liebe hätte. Zum
Schiedsrichter wählten sie Teiresias. »Nur den einen von zehn Teilen
genießt der Mann« - so lautete seine Entscheidung - »die zehn erfüllt
die Frau, sich in der Seele freuend.« Hera war erzürnt darüber, dass er
dies ausgesprochen hatte und bestrafte ihn mit Blindheit. Zeus verlieh
ihm dafür die Gabe eines Sehers und ließ ihn durch sieben Menschenalter
leben. Es ist uns aber überliefert, dass die Gabe den weisen Mann nicht
glücklich machte. Ein Fall für die Genderforschung. Die
Aufhebung der Differenz, beide Seiten ›von innen‹ kennen, bewahrt nicht
vor den Wehen des Lebens. Im Gegenteil. Hera gehörte noch zu den Frauen
alten Schlages, die das Wissen um die Überlegenheit der Frauen im
geheimnisvollen Dunkel belassen wollte. Welche Frau lässt sich schon
gern in die Karten gucken. So war ihr Zorn über die männliche
Plaudertasche durchaus verständlich. Sah man das Schlangenpaar jedoch
als Einheit, so war bemerkenswert, dass Teiresias das Geschlecht
desjenigen Teils annahm, den er zuvor totgeschlagen hat. Konnte man
daraus Schlüsse ziehen – für den Feminismus?