Renate Solbach: Camera inversa
| Klytämnestras Gefangene 3/9
Kassandras
bekannteste Prophezeiung, den Untergang Trojas betreffend, war die
Warnung vor dem hölzernen Pferd. Sie könnte auf einem ähnlich
gelagerten Zweifel beruhen, wie die Verweigerung der Liebe Apolls. Auch
hier waren es zwei einander entgegengesetzte göttliche Prinzipien, die
durch ihre Unvereinbarkeit das Handeln erschwerten oder ›richtiges‹
Handeln unmöglich machten. Ein in beiden Fällen zum Tragen kommendes
Motiv war das der Unversehrtheit. Die Mauer durfte nicht versehrt
werden und eine Gabe für die Götter, auch wenn sie vom Feind kam, war
sakrosankt. Wen oder was man
einlässt in die innersten Bezirke, das bedarf der strengsten Prüfung
überhaupt. Hat man dem ›Feind‹ erst Zutritt gewährt, so ist er nicht
mehr mit angemessenen Mitteln zu bekämpfen. Sich nicht vom
schönen Schein verblenden lassen. Die Tragweite einer Entscheidung
zeigt sich immer erst, wenn es bereits zu spät ist.
Hannah
neigte den Kopf und fuhr sich durchs Haar. Eine Geste, die
angestrengtes Nachdenken verriet. Die Synopsis zwischen beiden
Ereignissen (Apoll und das hölzerne Pferd) gründet in gewisser Weise
auf der Vorstellung vom Kampf, vom Kampf der Prinzipien und der
Geschlechter. Die Liebe wäre so gesehen als streng zu prüfendes
›trojanisches Pferd‹ zu betrachten. Nie weiß man, was sich verbirgt in
dem, das man einlässt in ›die innersten Bezirke‹. Oft genug handelt man
gegen eigenes Ahnen und Zweifeln. Die Verletzungen können tödlich sein.
Kassandra solche Überlegungen anzudichten, wäre sicher ein
Anachronismus. Aber vielleicht sind diese Vorstellungen gar nicht so
modern, wie sie sich geben.