Anne Corvey: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 2/3
Verarmte Nächte, vom Traum
bestohlene Nächte, vom Tagtraum.

Stolz und freimütig mag Kassandra ausgesprochen haben, was sie sah. Die Gabe, die nichts anderes zu sein schien, als die Fähigkeit Ereignisse und vor allem die Menschen klarer und deutlicher zu sehen als andere. Fremd unter Fremden. Die Entscheidung, vor diesem Wissen nicht die Augen zu verschließen. Die Gabe als Realisierung des Fremdseins in der Welt: nicht Sehnsucht nach paradiesischen Zuständen, sondern der nüchterne Entschluss, allen Sinnen zu trauen – und insofern ist sie natürlich erwünscht und eigener Wille –, sich weder zu belügen, noch sich einzureihen in die kollektiven Wahnvorstellungen, die Gesellschaft zu allen Zeiten auf unterschiedlichste Weise und auf unterschiedlichem Niveau produziert. In Helena, die wir erfanden, verteidigten wir alles, was wir nicht mehr hatten. Was wir aber je mehr es schwand, für umso wirklicher erklären mussten. So dass aus Worten, Gesten, Zeremonien und Schweigen ein anderes Troja, eine Geisterstadt erstand, in der wir häuslich leben und uns wohlfühlen sollten. War ich es denn allein, die dies sah?
Es ist eine Gabe, die einsam und misstrauisch macht, letztlich sogar gegen das eigene Denken, da es sich nie losgelöst vom kollektiven entwickelt. War Kassandra einsam und misstrauisch? Habe ich den Menschen um mich herum, unbeugsam die Wahrheit sagend, Verletzungen heimgezahlt, die sie mir beigebracht?
   © Acta litterarum 2009