Renate Solbach: Camera inversa
| Klytämnestras Gefangene 2/3
Verarmte Nächte, vom Traum
bestohlene Nächte, vom Tagtraum.
Stolz
und freimütig mag Kassandra ausgesprochen haben, was sie sah. Die Gabe,
die nichts anderes zu sein schien, als die Fähigkeit Ereignisse und vor
allem die Menschen klarer und deutlicher zu sehen als andere. Fremd
unter Fremden. Die Entscheidung, vor diesem Wissen nicht die Augen zu
verschließen. Die Gabe als Realisierung des Fremdseins in der Welt:
nicht Sehnsucht nach paradiesischen Zuständen, sondern der nüchterne
Entschluss, allen Sinnen zu trauen – und insofern ist sie natürlich
erwünscht und eigener Wille –, sich weder zu belügen, noch sich
einzureihen in die kollektiven Wahnvorstellungen, die Gesellschaft zu
allen Zeiten auf unterschiedlichste Weise und auf unterschiedlichem
Niveau produziert. In Helena, die wir
erfanden, verteidigten wir alles, was wir nicht mehr hatten. Was wir
aber je mehr es schwand, für umso wirklicher erklären mussten. So dass
aus Worten, Gesten, Zeremonien und Schweigen ein anderes Troja, eine
Geisterstadt erstand, in der wir häuslich leben und uns wohlfühlen
sollten. War ich es denn allein, die dies sah?
Es ist eine
Gabe, die einsam und misstrauisch macht, letztlich sogar gegen das
eigene Denken, da es sich nie losgelöst vom kollektiven entwickelt. War
Kassandra einsam und misstrauisch? Habe ich den Menschen um mich herum, unbeugsam die Wahrheit sagend, Verletzungen heimgezahlt, die sie mir beigebracht?