Renate Solbach: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 2/2
Eines ist sicher: Wer gezwungen ist, die Heimat zu verlassen, hat nur wenige Möglichkeiten. Der Blick wird entweder verklärend oder sehr klar. Oft genug entspringt er leidvollen Erfahrungen und dem Willen sich nicht unterkriegen zu lassen. Kassandra verlor in der Fremde weder die Fähigkeit, den Verhältnissen auf den Grund zu schauen noch die Distanz, die zur Klarheit des Blicks dazugehört.

Doch ich wundere mich über dich,
du bist in einer fremden Stadt
jenseits des Meeres aufgewachsen
und triffst hier bei uns
so genau die Wahrheit,
als wärst du immer hier gewesen.

Wir wissen nicht viel über die Tochter aus königlichem Hause. Zu spärlich die Informationen, zu entfernt die Zeiten, sollte es Kassandra gegeben haben. Raum für Spekulationen in Fülle. Die Schriftstellerin hatte in einem Lande gelebt, das die Menschen zwang, sich in ihm einzurichten und nur wenigen erlaubte, die Welt zu bereisen. Welcher Preis da zu entrichten war? Die Heimat als Gefängnis in mancherlei Sinn.
   © Acta litterarum 2009