Renate Solbach: Camera inversa
| Klytämnestras Gefangene 2/2
Eines
ist sicher: Wer gezwungen ist, die Heimat zu verlassen, hat nur wenige
Möglichkeiten. Der Blick wird entweder verklärend oder sehr klar. Oft
genug entspringt er leidvollen Erfahrungen und dem Willen sich nicht
unterkriegen zu lassen. Kassandra verlor in der Fremde weder die
Fähigkeit, den Verhältnissen auf den Grund zu schauen noch die Distanz,
die zur Klarheit des Blicks dazugehört.
Doch ich wundere mich über dich,
du bist in einer fremden Stadt
jenseits des Meeres aufgewachsen
und triffst hier bei uns
so genau die Wahrheit,
als wärst du immer hier gewesen.
Wir
wissen nicht viel über die Tochter aus königlichem Hause. Zu spärlich
die Informationen, zu entfernt die Zeiten, sollte es Kassandra gegeben
haben. Raum für Spekulationen in Fülle. Die Schriftstellerin hatte in
einem Lande gelebt, das die Menschen zwang, sich in ihm einzurichten
und nur wenigen erlaubte, die Welt zu bereisen. Welcher Preis da zu
entrichten war? Die Heimat als Gefängnis in mancherlei Sinn.