Renate Solbach: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 1/4
Sie stellte sich vor, wie unter den Bedingungen der ›entzauberten‹ Welt die in mythischen Texten beschriebenen Fähigkeiten und Handlungen in psychische Verhältnisse umzudenken seien. Psyche gewordene Rolle? Ein Übersetzungsprozess: Styx oder Rubicon.  Vor dem Hintergrund der archaischen Handlungsmuster tauchten Fragen auf. Gibt es so etwas wie eine persönliche Geschichte? Wo beginnt und wo endet sie? Wiegt sie leichter oder schwerer? Längst bin ich ein leidenschaftlicher Freund dieser Combination; denn tatsächlich ist Psychologie das Mittel, den Mythos den faschistischen Dunkelmännern aus den Händen zu nehmen und ihn ins Humane umzufunktionieren. War die Psychoanalyse nicht auch nur ein Kult, um das Individuum auf dem kollektiven Altar zu opfern und unter Darbietung schlüssig wirkender Erklärungen gesellschaftlich handhabbar zu machen? Die Psyche als Bühne, auf der sich das Drama unter der Regie der Dreifaltigkeit von Ich, Es und Über-Ich einmal mehr vollzog? Die Verzweigungen, Verästelungen und Folgen waren zu besichtigen. Der Lohn für solches ›Opfer‹ war eine gewisse Schuldlosigkeit des einzelnen, der – nicht Herr im eigenen Hause – so oder so nicht anders handeln konnte. Hier trafen sich der Mythos und die mit einem modernen, verräterischen Vokabular ausgestatteten Vorstellungen von der individuellen Psyche. Hatte Ananke eine wissenschaftliche Ausbildung erfahren? Was auch die Ursache sein mag, ich kann in der Verhimmelung der Schuldlosigkeit nichts anderes sehen, als einen feigen Versuch, sich vor der Verantwortung zu drücken, auch vor der Verantwortung, selbst dafür Sorge zu tragen, wie man sich von anderen unterscheidet und damit einem einzigartigen Dasein Bedeutung verleiht. Früher fiel man unter die Räuber. Heutzutage überfällt dich die ›psychologisch trainierte Meute‹.
   © Acta litterarum 2009