Renate Solbach: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 1/3
So oder ähnlich könnte Kassandra unter dem Anprall der Gesichte empfunden haben. Konfrontiert mit Bildern des Untergangs, die Geheimnisse preisgaben, denen nur ein vom Schrecken gereifter Blick standhalten konnte. Bilder, die ineins mit den Visionen des Untergangs eine Lösung boten, vorausgesetzt, man wusste sie zu deuten. Sogleich wuchs der Zweifel, genährt von reicher Erfahrung. Konnte sie sich Gehör verschaffen in einer Welt, die nicht länger bereit war, den inneren Stimmen und Bildern zu lauschen? Einer Welt...
Wie war Kassandra zu ihrer Sehergabe gekommen? Die Schriftstellerin aus dem Osten hatte sie Kassandra als innigen Wunsch angedichtet, als einzig möglichen Berufswunsch für eine Frau ihres Standes, der – erfüllt – sich zu Fluch und Verhängnis wandelte. Warum eigentlich wünscht man sich ein längeres Leben? Ich mache mir vor, ich würde gerne noch den Kassandra-Stoff machen, das könnte keine andre. Das ist wahr, aber wenn er nicht gemacht wird, ändert sich auch nichts. Der Stoff arbeitet in mir, es treten immer wieder Sätze hervor, die ich aber nicht aufschreibe, wieder verliere. Ein Beruf in unserem Sinne war das Sehertum nicht: eher eine ›Berufung‹. Obwohl, es gab da auch Gemeinsamkeiten. Jedenfalls hatte Arbeit einen anderen Stellenwert in einer Sklavenhaltergesellschaft. Recherche schien angesagt, um Hannahs eher mageren Geschichtskenntnissen ein wenig auf die Sprünge zu helfen. Die Spur führte sie auf die Verquickung von Sehertum, Weltdeutung, Literatur und Schriftsteller. Bedachte man deren Rolle in der DDR, die von oben verordnete Machtlosigkeit, mit der noch die harmloseste der Möglichkeiten angesprochen war, so handelte es sich um Vorstellungen geprägt von Sehnsucht und Ressentiment. Verständlichem Ressentiment.
Hannah seufzte zum zweitenmal an diesem Morgen. Kann man sich die Gabe wünschen, wenn man bei Sinnen ist? Kann man sehen, ohne bei Sinnen zu sein?
   © Acta litterarum 2009