Renate Solbach: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 12/04
Sicher eine präfeministische Erscheinung. Eine Frau schreibt nicht wie ein Mann, weil sie mit dem Körper spricht. Du bist rein, weil du dich nicht vom Blut entfernt hast. Hier verschränkten sich die Probleme Schreiben und Frausein. Das Festgestellte wieder flüssig machen. Die Worte zum Tanzen bringen. War das Schreiben der Männer körperlos? Wollte Claire dieser Feministin Glauben schenken so gingen bei den Männern die Worte in Reih’ und Glied: Dosennahrung, Fertigware. Eine ziemlich fabrikmäßige Vorstellung männlichen Geistes. Die beschworene feministische Utopie aber erinnerte fatal an die Tantensturzbäche. Eine Ökonomie der Verausgabung: Fülle von Wörtern, Bildern, Sinnebenen, Vieldeutigkeiten, Widersprüchen. Kein Plot steht im Vordergrund, sondern eine explodierende Sprache. Schreiben als Tanz. Zum letzten Mal Missachtung des Individuums. Nach Belieben austauschbares Geschwätz.
Claire schaute vom Schreibtisch auf und blickte versonnen in die Landschaft. Heute war der letzte Tag ihres Aufenthalts und sie hatte den Standort gewechselt, hatte sich vom Balkon in das Innere des Raumes zurückgezogen. Der Blick kehrte zum Manuskript zurück. Viel Zeit blieb nicht mehr. Viel war auch nicht mehr vonnöten. Sie hatte das Ende des Fadens in der Hand. Der ›Kern‹ war nicht leer, sondern unaufgeräumt. Viel zu viel hatte sich angesammelt im Laufe der Jahre. Schaute sie genau hin, so war ein Großteil unsinniger Ballast. Denn aufgeräumt werden soll nicht nur mit dem Denken einer bestimmten Epoche oder Methode, aufgeräumt werden sollen die Denkvoraussetzungen der abendländischen Kultur. Und das mit guten Gründen. Feministisches Denken ist darum immer interessegeleitet, motiviert, parteiisch; es zielt nicht auf Bestätigung, sondern auf Subversion und Veränderung. Angefüllt mit Bildern und Vorstellungen, die nicht nur eigene waren, umherflogen wie Schmetterlinge, sich hier und dorthin setzten.
   © Acta litterarum 2009