Acta litterarum
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Eine Frau von fünfzig Jahren
Camera inversa
Renate Solbach: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 12/05
Es galt, ein Palimpsest zu schaffen, um sich nicht länger vom Wunschdenken anderer regieren zu lassen. Es ging nicht an, noch länger an dieser Art existenziellen Leidens festzuhalten. Das war nicht nur eine Frage der Realisierung der eigenen Freiheit, es war die notwendige Vollendung der Person. Nichts für sich geschrieben.
Das heißt: Auslöschung des Individuums. ... Warum klappte wieder einmal nur bei den Deutschen das Verbot total?
Jeder hatte eine Mitgift erhalten, wenn auch eine je nach Zeit und Konstellation unterschiedliche. Als Erklärung für die eigenen Leiden und Unzulänglichkeiten genommen, erzeugte sie einen
Regressus ad infinitum
oder an einen nicht näher zu bestimmenden Beginn, wollte man sich nicht auf Mythen oder die Ersinnung von Ursituationen einlassen. Die ungelöste Frage von Henne und Ei. Den Kern musste sie aufsuchen. Die Leere, die Fülle war und darin der des Meeres glich, das sie nun schon so viele Tage in wechselnden Bildern vor Augen hatte. Eine Leere, aus der man schöpfen konnte wie ein Musiker aus der Stille, die man möblieren konnte mit Worten.
Es war das Bild des Balkons mit dem Blick auf die menschenferne und doch von Menschen gemachte Landschaft und das dahinterliegende Meer, dass sie zu bewahren gedachte, um es bei jeder möglichen Gelegenheit heraufzurufen.
Die Natur aufsuchen als Abbild der menschlichen Seele. Ästhetik der überkommenen Art. Der Zauber von Stifter.
Kein Zaubermittel, sondern bildliche Vergegenwärtigung der Quellen. Mit diesem Bild als Untergrund mussten sich all die Worte von selber fügen. Es wies ihnen Plätze zu und schuf die angemessenen Dimensionen.
© Acta litterarum 2009