Renate Solbach: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 12/06
Der zentrale Punkt in diesem Bild aber war der Olivenbaum, der rauschte – die Blätter im Wind – und im Licht der Umgebung silbern schimmerte, als bereite er sich auf das jedes Jahr stattfindende Ereignis vor: die Ankunft der Zugvögel. Dieser Scharen, die sich glichen und doch stets andere waren. Die seine Blätter und Früchte bildeten für die Zeit, bis sie sich wieder in die Lüfte erhoben nach einem Moment des unentschlossenen Flügelschlagens. Die Rast vor dem langen Flug über das Meer, in ein Winterquartier in fernen, wärmeren Gegenden.
Claire packte ihre Sachen zusammen. Ihr Mann hatte bereits ein Taxi bestellt, das sie zum Flughafen bringen sollte. Die vierzehn Tage des Nachdenkens und der Selbstbefragung waren zu Ende. Sie warf einen letzten Blick auf den Garten und das Meer. Merkwürdig stumpf war dieser Anblick heute und doch würde das Bild dieses Ortes sie in den nächsten Jahren begleiten. Gleichzeitig entglitt es ihr bereits jetzt. Claire war kein Augenmensch. Für Claire fügten Bilder sich aus Worten zusammen. In der Sprache leben. Die Wörter kommen zu dir und damit zu sich in deinem Verstehen. Gab es bildlose Bilder? Nicht unsinnlich. Von silbener Farbigkeit, fließend, von einer Bestimmtheit, die nicht im Sehbereich lag. Die Worte bildeten Konstellationen, die Emotionen und evidentes Verstehen zuließen. Sie entwickelten eine Farbigkeit, die man spürte, nicht sah. Sie schmeckten unter der Zunge. Ihre Entstehungsweise war im Kern synästhetisch. Silber-, silbenschuppiges Meer.
   © Acta litterarum 2009