Renate Solbach: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 12/07
Sie musste den Kern zum Sprechen bringen. Sich nicht einnehmen lassen von herrschenden Moden, Meinungen, Diskursen. Es ist kein Ort außerhalb des herrschenden Diskurses zu denken, der diesen nicht zur Voraussetzung hätte. Aus diesem Grunde war die Frauenideologie, wie sie sie genannt hatte, eine, die ihr Schreiben eine Zeit lang begleiten würde. Nicht weil sie ihr, sondern weil sie ein Problem und ein herrschender Diskurs war, der eine Menge ungelöster Fragen barg, die sowohl das Leben wie das Schreiben tangierten. Der Diskurs um Emanzipation produziert Bilder von Emanzipierten und Unemanzipierten. Die Emanzipierten erkennen sich als solche in Abgrenzung zu den Nichtemanzipierten. Und die Strategien, die gewählt werden, um sich zu emanzipieren, die konkreten Ziele, die angestrebt werden, sind von vornherein festgelegt. Emanzipation tritt mithin auf als teleologisches Projekt, das immer totalitäre Effekte impliziert. Sich dazu ins Verhältnis setzen, ihren Ort finden, in diesem Streit um den Ort der Wahrheit. Einzig dem Ort des Schreibens verpflichtet. Das war die Aufgabe des Schriftstellers. Sieh ich bin ein Schmetterling. Zart und zerbrechlich. Mach dir keine Gedanken: nimm mich! Ich bin das Andere. Die Welt ist ein Tanz. Wem nützt es auf  Gräber zu starren, auf das Leid, die Ungerechtigkeit, die Toten. – Sorglos, wie die Lilien auf dem Felde, die Vögel in der Luft: Ich, der Schmetterling. Tanz! Tanz bis du umfällst. Im Rausch niedersinkst. Wehrlos, gedächtnislos, schön. Nimm mich. Ich bin anders, ganz weiblich, ganz. Das war Gesang. Die Hitparade der Weiblichkeit. Geraubt aus männlichen Träumen von einem anderen Wesen, das Frau heißen sollte. Ein weiterer Raub der Sabinerinnen.
   © Acta litterarum 2009