Renate Solbach: Camera inversa | Eine Frau von fünfzig Jahren 12/08
Die Bewohnerinnen der Gleichheit ertrugen die Gleichheit nicht. Sie tanzten den Tanz des Besonderen. Primadonnen am Abgrund. Ein Hexentanz. Wenn es dir banal vorkommt, murmelte er, seine Nase an ihrer Haarspange, dass ein Mann mittleren Alters nicht mehr nach unbekannten Wirklichkeiten sucht, die im Alltag verschüttet sind, dass er die Illusion aufgegeben hat, Bücher zu verfassen, sei der geeignete Schlüssel dazu, wenn er, der sich einmal als metaphysisches Temperament ohne Metaphysik bezeichnet hat, bis zu dem Tag, als er die Treppe herunterfiel, drei Stufen nur, in Tarduz, aber sie haben genügt, um fröhlich mit dem Hut zu winken und aufzuhören, nach dem Anderen zu suchen - - -.
Claire stellte ihr Gepäck nach draußen und schloss die Tür. Ihr Mann war schon zur Straße gegangen und hielt ungeduldig Ausschau nach dem Taxi. Sie lächelte versonnen. Zurückkehren an den Punkt an dem das wahnsinnige Spiel begann und Fädchen für Fädchen prüfen – prüfen mit Blick auf das Eigene. Die guten ins Kröpfchen, die schlechten ins Töpfchen. Oder war es umgekehrt? Das war die vornehmliche Aufgabe einer écriture feminine in einer verstellten Welt. Verstellt von feministischen Ideologien, die nicht Ausgang waren aus dem Labyrinth, sondern dessen neuerliche Installierung. Mittendrin saß Minotaurus, der kein Stier mehr war, sondern weiblich – die heilige Kuh. Die ganze schöne Veranstaltung war eine ungeheure Identitätskrise. Verständlicherweise. Ohne Identität aber gab es kein Schreiben. Ohne Identität gab es keine Differenz.
   © Acta litterarum 2009