Renate Solbach: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 24/2
Das war der verborgene Sinn der Pietaszene. Kassandra wiegte den Erlöser auf ihrem Schoß, den falschen Erlöser. Schlagartig hatte sie begriffen, es gab keinen richtigen. Weder der Geliebte, der Sohn (den Kassandra nicht hatte, so dass die Geschichte nicht in die nächste Generation fortgetragen werden konnte) noch der Vater (wieso kam ihr hier der Vater in den Sinn?) konnten das leisten. Statt dessen musste ihr Geist auf Wanderschaft gehen, sorgfältig die Orte und Herzen der Menschen prüfen, ehe er sich niederließ. Wer würde die Botschaft begreifen? War es eine Botschaft? Nein, es war eine Aufgabe. Das Rätsel Kassandra. Und so war es gut, dass Hannah nicht alleine war, dass es Nora gab und die Erzählerin, die sie beide (liebevoll?) umfasste. Es gab keinen Erlöser. Es gab keine Erlösung. Es gab nur die Lösung. Die Lösung in der Umarmung und dazu gehörten zwei. Agamemnon aber war tot. Wieso dachte die Erzählerin (oder war es Nora?) in diesem Moment mit einer ziehenden, sanft schmerzenden Sehnsucht an Andreas?
   © Acta litterarum 2009