Anne Corvey: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 24/1
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Die Erzählerin hielt inne. Jetzt war Hannah in eine Zeitschleife geraten. Diesen Teil der Geschichte hatte sie bereits erzählt. Was veranlasste die Stockung? Was hinderte sie über den Punkt hinauszugehen? Das Nesselfeld. Die Erinnerung schoss blitzartig hoch. Der schmerzhafte Umschwung. Kassandra hatte ihn ebenfalls gespürt. An jenem Abend, als sie über die Begegnung mit Apoll nachsann. Die Angst davor, dass sich nichts ereignen könne – oder eben der jähe Umschwung, der Absturz.
Auf einmal war alles wieder da. Die Pietàszene. Den toten Agamemnon im Arm hatte Kassandra begriffen. Agamemnon verharrte solange in seiner Gefangenschaft, bis die Rache ihn erschlug. Ein tödliches Verharren. Nun könnte man darüber räsonnieren, ob es für den antiken Agamemnon überhaupt eine andere Möglichkeit gegeben hätte. Doch das führte nur weg vom Kern des Problems. Es ging nicht darum, Agamemnon Schuld oder ein Fehlverhalten zu unterstellen. Wahrscheinlich hatte er sein Bestes gegeben. Es ging um Kassandra. Über diesen Punkt kam auch sie nicht hinaus. Sie konnte nicht über ihn hinaus gelangen. Was in ihrer Macht stand geschah: der ›eigenhändige‹ Tod. Auf unnachahmliche Weise. Aus Stolz ging sie unbeugsam mit der Wahrheit in den Tod. Es gab keine Wahrheit, mit der sie leben konnte. (Nennt man eine solche Situation ›tragisch‹?) Fest nur blieb Kassandra das Herz und hell die Gedanken.
   © Acta litterarum 2009