Renate Solbach: Camera inversa
| Klytämnestras Gefangene 23/1
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Eine
Stunde noch. Ihr Geist machte sich auf die Reise. Eine lange Reise
würde es werden, da ihr Name nicht so schnell verlöschen sollte in den
Köpfen der Menschen und in ihren Schriften. Eine beschwerliche Reise
dazu, denn sorgsam musste sie die Orte prüfen, die Herzen der Menschen,
in denen sie sich gefahrlos niederlassen konnte. Eine große Müdigkeit
überkam Kassandra und sie schloss die Augen. Im Hinübergleiten entglitt
ihr der Körper Agamemnons und so fanden Klytämnestra und ihre
Helfershelfer bei ihrer Rückkehr zwei Leichname vor, deren Stellung
zueinander jede beliebige Deutung offen ließ... Ihre Stimme
verebbte, die Worte schwebten noch eine Weile im Raum und zogen einen
seltsamen Hall – wie eine zu lang geratene Schleppe – hinter sich her.
Hannah
saß auf dem Boden. Die Beine gekreuzt, die Brille hochgeschoben schaute
sie auf den alternden Schriftsteller und konnte sich die Beklommenheit,
die von ihr Besitz ergriff, nicht erklären. Sie räusperte sich. Wenn
sie jetzt sprechen müsste, würde der Knoten im Hals die Stimme
verschlucken. Der Schriftsteller mit den hermeneutischen Neigungen
erhob sich, schritt im Raum auf und ab und ruderte mit den Armen, als
kämpfe er in einem zu klein geratenen Boot gegen eine übermächtige See.
Er kam auf sie zu, wendete sich ab, ging zur gegenüberliegenden Seite
und ließ sich nieder. Seine Bewegungen wirkten weibisch. Sicher
eine Folge seines Venenleidens. Dieselben Kaskaden, die sonst aus
seinen Briefen strömten, entströmten nun seinem Mund. In diesem Moment
wirkte er hemmungslos. Alles war ›wunderbar‹ und ihre ›Gabe‹ nahm
homerische Ausmaße an, als solle sie gemästet werden. War sie die Gans oder die Gänseliesel?