Renate Solbach: Camera inversa
| Klytämnestras Gefangene 22/1
22
Die
Erzählerin war nicht so recht bei der Sache. Außerdem hatte sie im
Moment eine kleine Atempause. Es konnte nichts geschehen, da das, was
Hannah erzählte, bereits geschehen war. Ein leise hingehauchtes
Vorsicht! durchkreuzte ihre Überlegungen. Nicht leichtsinnig werden!
Nicht, dass sich da wieder etwas einschleicht! Es war so schnell
verschwunden wie es gekommen war. Ihr ging noch die Szene nach, in der
Agamemnon und Kassandra ihren Tod gefunden hatten. (Zu der Zeit trieb
Hannah bereits – unwillentlich, selber getrieben von etwas, das ihr
nicht bewusst war, das sei der Gerechtigkeit halber gesagt – ihr
Spiel.) Wer schrieb diese Geschichte? War es Kassandra, die sie
diktierte? Wer oder was war Kassandra? Unerlöste, unerledigte Gedanken,
die Gestalt annahmen? Probleme, die so fundamental menschliche sind,
das sie zu Ende oder – um nicht zu übertreiben – weitergedacht, erwogen
werden müssen, solange es Menschen und ihre Verhältnisse gibt? Sie
ergreifen, ›schlägt‹ irgendein Mensch sich produktiv mit ihnen herum,
eine Gestalt, die diesem Menschen aufgrund seiner ›inneren
Verhältnisse‹ nahe steht. Schlagen in ihr die Augen auf und beginnen zu
leben. Das Wechselspiel nimmt seinen Anfang! Denn
ob etwas ein Leben werden kann, das hängt nicht von den großen Ideen
ab, sondern davon, ob man sich aus ihnen ein Handwerk schafft, ein
Tägliches, etwas, was bei einem aushält bis ans Ende. Wir
befassen uns immer mit ›Leichnamen‹, die ›ihre‹ Wahrheit mit in den Tod
genommen haben. Das Löchrige der Wahrheit. Die wichtigste Frage dabei
ist: nähren sie sich von uns oder werden sie uns zur Nahrung?