Anne Corvey: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 22/1
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Die Erzählerin war nicht so recht bei der Sache. Außerdem hatte sie im Moment eine kleine Atempause. Es konnte nichts geschehen, da das, was Hannah erzählte, bereits geschehen war. Ein leise hingehauchtes Vorsicht! durchkreuzte ihre Überlegungen. Nicht leichtsinnig werden! Nicht, dass sich da wieder etwas einschleicht! Es war so schnell verschwunden wie es gekommen war. Ihr ging noch die Szene nach, in der Agamemnon und Kassandra ihren Tod gefunden hatten. (Zu der Zeit trieb Hannah bereits – unwillentlich, selber getrieben von etwas, das ihr nicht bewusst war, das sei der Gerechtigkeit halber gesagt – ihr Spiel.) Wer schrieb diese Geschichte? War es Kassandra, die sie diktierte? Wer oder was war Kassandra? Unerlöste, unerledigte Gedanken, die Gestalt annahmen? Probleme, die so fundamental menschliche sind, das sie zu Ende oder – um nicht zu übertreiben – weitergedacht, erwogen werden müssen, solange es Menschen und ihre Verhältnisse gibt? Sie ergreifen, ›schlägt‹ irgendein Mensch sich produktiv mit ihnen herum, eine Gestalt, die diesem Menschen aufgrund seiner ›inneren Verhältnisse‹ nahe steht. Schlagen in ihr die Augen auf und beginnen zu leben. Das Wechselspiel nimmt seinen Anfang! Denn ob etwas ein Leben werden kann, das hängt nicht von den großen Ideen ab, sondern davon, ob man sich aus ihnen ein Handwerk schafft, ein Tägliches, etwas, was bei einem aushält bis ans Ende. Wir befassen uns immer mit ›Leichnamen‹, die ›ihre‹ Wahrheit mit in den Tod genommen haben. Das Löchrige der Wahrheit. Die wichtigste Frage dabei ist: nähren sie sich von uns oder werden sie uns zur Nahrung?
   © Acta litterarum 2009