Renate Solbach: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 22/2
Die Erzählerin las wieder und wieder den Text. Eigentlich stand alles da, man sah es nur nicht. Es war mit unsichtbarer Tinte eingeschrieben. (War es das, was man mit ›Zwischen-den-Zeilen-lesen‹ meinte? Je ne sais quoi!) Sie musste es einholen. Es war dieses wechselhafte Verhältnis zwischen Literatur, Welt und Psyche. Das hatte dieser Freud verstanden, wenn er auch sonst eine Menge missverstanden hatte oder aus eigenen ›Zwängen‹ nicht herauskam. Jeder musste sehen, wie weit er kam, das war es, was der Begriff Redlichkeit meinte. Das hieß, mit der Wahrheit leben. Die Psyche und der Text bewegten sich in einem Kontinuum, dem allgemein menschlichen und dem kulturellen. So nahmen sie vieles auf und verarbeiteten es weiter, ohne sich dessen bewusst zu sein. Las man den Text, so schritt es einem entgegen. Welches Halten oder Loslassen oder Nicht-mehr-Haltenkönnen, welches Neigen und Strecken und Zusammenziehen, welches Fallen oder Fliegen sah oder ahnte man je, das hier nicht wieder vorkommt? Und wenn es irgendwo vorkam, so verlor man es: denn es war so flüchtig und fein, so wenig für einen bestimmt, dass man nicht fähig war, ihm einen Sinn zu geben.
Später, wenn die äußeren Verhältnisse sich der Entwicklung angeglichen hatten, sah es aus wie Hellsichtigkeit. ›Wahrsagen‹ heißt mit der Wahrheit leben, nicht in ihr. Sich zu ihr in Beziehung setzen in aufrichtiger Weise. Ohne die Augen zu verschließen. Ohne Lebenslügen zu konstruieren. Die Wahrheit war schmerzlich.
   © Acta litterarum 2009