Renate Solbach: Camera inversa
| Klytämnestras Gefangene 22/3
Die Offenheit der Deutungen stand in einem offen sichtlichen Gegensatz zu den Verhältnissen.
Die Szene zwischen Kassandra und Agamemnon. Wer war eigentlich der
Gefangene? Kassandra oder Agamemnon? Was war das für eine Geschichte
zwischen diesen beiden? Die äußeren Verhältnisse waren klar. Agamemnon
war der siegreiche König, der mit seiner Beute heimgekehrt war. Doch
Agamemnon war selber ein Gefangener – ohne zu wissen, oder ahnte er? –,
der Gefangene Klytaimnestras, der Gefangene ihrer Rachegedanken, die
sie für ausgleichende Gerechtigkeit hielt, schließlich gab es da noch
die geopferte Tochter.
... ich – jauchze auf vor Glück .Bei dem da wär es recht so, mehr als recht fürwahr!
Der mit so viel fluchwürd’gem Unheil hat den Krug
Im Haus gefüllt, trinkt selber aus ihn, heimgekehrt.
Mit
der Wahrheit leben heißt ›wissen wollen‹, auch wenn es schmerzt.
Unterschied das Agamemnon und Kassandra? Oder hatten sie nur eine je
andere Weise damit umzugehen? Das war die Frage und das Geheimnis ihrer
Beziehung. Sie hielten sich umfangen! Die Lösung fand in der Umarmung
statt. Das unterschied eine echte Umarmung von einem ›Judaskuss‹.
Agamemnon befand sich bei Kassandra im ›Garten der Sorglosigkeit‹.