Anne Corvey: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 22/4
Hier lebte er scheinbar in der Wahrheit, ohne Schmerz. Das aber geht nur begrenzte Zeit. Immer wieder zog er hinaus, in seine Gefangenschaft: Die menschlichen Verhältnisse, die Welt, in die wir geworfen sind und an der wir mitstricken. Die ›Insel der Seligen‹ ist umspült von diesen ›Wassern‹. Sie lecken am Ufer. Und manchmal kommt eine Sturmflut und spült die Insel hinweg. Mühsam ist es, sie wiederzugewinnen. Sie verändert ihre Qualität, wird Schutzraum. Das verlorene Paradies, von dem die Menschheit träumt.
Kassandra war getrennt von ihrer Heimat, gefangen in seiner, gefangen vom Schmerz, den seine Gefangenschaft, seine Vergangenheit, die in Teilen auch ihre war, ihr zufügten, aber frei in Gedanken. Sie nahm seine Liebe, seine Ängste als ihre an. Ihre Form war Vergangenheit, die schmerzte. Seine und ihre. Die Pietàszene. Darüber musste die Erzählerin unbedingt nachdenken. Welche Bedeutung hatte sie? Warum war dieses Bild auf einmal aufgetaucht. Neu ist die Art von Bewegung, zu der das Licht gezwungen wird durch die eigentümliche Beschaffenheit dieser Oberflächen, deren Gefälle so vielfach abgewandelt ist, dass es da langsam fließt und dort stürzt, bald seicht und bald tief erscheint, spiegelnd oder matt. Das Licht, das eines dieser Dinge berührt, ist nicht mehr irgendein Licht, es hat keine zufälligen Wendungen mehr; das Ding nimmt von ihm Besitz und gebraucht es wie sein eigenes. An dieser Stelle – die alles in ein klares und unmissverständliches Licht rückte – verwirrten sich die Gedanken der Erzählerin wieder, und so ließ sie ab und wandte ihre Aufmerksamkeit von Neuem Hannah zu.
   © Acta litterarum 2009