Renate Solbach: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 21/3
Die Vergangenheit kroch auf verschwiegenen Sohlen heran und spann einen Kokon um Hannah. Eine gewisse schöne und starke Bewegung, die sich nicht länger verbergen ließ, hat, wie eines großen Vogels Flug, Ihre Blicke ergriffen–: nun aber mutet man Ihnen zu, Ihre Augen zu senken für die Weile eines Abends. Denn nicht dorthin, nicht in die Himmel ungewisser Erwartung will ich Ihre Aufmerksamkeit versammeln, nicht aus dem Vogelflug der neuen Kunst will ich Ihnen wahrsagen. Sie schüttelte sich ein wenig, schüttelte ihm die Hand und folgte ihm in sein Arbeitszimmer. Ihr Blick fiel als erstes auf den massigen Ohrensessel, in dem er auf sie gewartet haben wollte. Dann streifte er den kleinen, niedrigen Tisch, der von ebenso niedrigen Sitz- oder Ruhestätten umgeben war, auf denen Felle lagerten. Vier Kerzen schmückten ihn. An jeder Ecke eine. Hannah fühlte sich ein wenig an eine irgendwie überlebte Studentenbude erinnert. Ansonsten war er leer. Die Leere war es, die Hannah einen Moment erstarren ließ. Sie war sprechend, schilderte beredt das abgeräumte Arrangement.
Die tödlich wirkende Ruhe des Schriftstellers, die wie das Resultat des Glaubens einherkam, ein unendliches Maß an Zeit zur Verfügung zu haben, trieb Hannah zur Eile und so räkelte sie sich kurze Zeit später im Bett des Hotels, dehnte und streckte ihre Glieder, um die Verspannung  abzustreifen und fiel augenblicklich in einen tiefen Schlaf.
   © Acta litterarum 2009