Renate Solbach: Camera inversa
| Klytämnestras Gefangene 21/2
Sie mochte seine Briefe.
(Seinen ersten Gedichtband hatte ihr Nora geschenkt.) Und doch
verspürte sie eine leise Verunsicherung, ausgelöst weniger durch die
Ober- und Untertöne, die sie seinen Neigungen zuschrieb, als vielmehr
durch das Tremolierende, das ihr aus mancherlei Wendungen und
Silbenkaskaden entgegenflog. Ach was! Das war gewiss ihre Zweifelsucht,
die sich nur selten beruhigte. (Ein Zug ihres Wesens, den sie mit Nora
teilte.) Warum das Lob nicht einfach genießen? Was war schon dabei? Schönheit ist immer etwas Hinzugekommenes und wir wissen nicht was.
Die Strecke dehnte sich endlos und ihre Gedanken eilten zwischen dem
Ziel und Andreas hin und her. Leise Sehnsucht nagte an ihr. Sie
schaltete den Scheibenwischer ein, da es stärker zu regnen begonnen
hatte und die Fahrbahn ihr vor den Augen verschwamm. Mit dem Regen
wischte sie auch ihre Gedanken beiseite und bereitete sich auf das
bevorstehende Gespräch vor. Es waren ein paar nicht unwesentliche Dinge
zu klären, die Geschick und Konzentration erfordern würden.
Mitternacht
war längst vorüber, als sie den Wohnsitz des Schriftstellers erreichte
und so beschloss sie, nur noch kurz bei ihm vorbeizuschauen, um sich
dann im Hotel von der Fahrt zu erholen. Mit weit ausholender,
gravitätischer Gebärde trat er ihr im Entrée seines Hauses, das aus
einem anderen Zeitalter zu stammen schien und seine altertümliche
Ausstrahlung allen Renovierungen zum Trotz bewahrt hatte, entgegen. »Da
sind Sie ja endlich! Wie schön!«