Anne Corvey: Camera inversa | Klytämnestras Gefangene 23/2
Nachdem sie den Vormittag mit Besprechungen zugebracht und gemeinsam gespeist hatten (das kleine Mahl, das er, wie er eilfertig versicherte, eigenhändig für den vorangegangenen Abend, an dem sie erst so spät eingetroffen sei, vorbereitet habe), ließ er Hannah mit einem Stapel Bücher in seinem Arbeitszimmer zurück. Sie war gut gelaunt, fast heiter. Alles hatte reibungslos funktioniert. Die Arbeit war erledigt. Ein kurzer Anruf auf dem Handy setzte Andreas ins Bild. Sie streckte sich auf einer der Liegen aus, blätterte in den Büchern, las hier und dort, las sich an einer Stelle fest und fuhr plötzlich hoch - sie musste über der Lektüre eingenickt sein. Die Tür hatte sich geöffnet. »Meine Liebe, und nun zu Ihnen, zu Ihnen und Ihrem Text. Ich weiß, dass Sie ihn dabei haben. Lesen Sie für mich, ich bitte Sie darum. Sie müssen für mich lesen. Unbedingt!« Der Schriftsteller trat auf Hannah zu. Sie erschrak. Ihr Text? (Nora dürfte sowieso nichts davon erfahren.) Die Eitelkeit trug den Sieg davon. Albern, sich zu zieren! Schließlich war es für einen Autor eine vollkommen normale Situation, oder etwa nicht? Dieser voreilende Gehorsam. Die Erwartungserwartung, die die Reaktionen so übereilt wie unangemessen bestimmt, ehe das Nachdenken Zeit hat, seine Stimme zu erheben.
Hannah konzentrierte sich auf ihren Text, wollte nur ihn sprechen lassen. Sie nahm sich, auch stimmlich, zurück. Als ihr Blick über den Rand der Lesebrille in den Raum und auf den Alten fiel – sie hatte seine Blicke gespürt, und außerdem, so ganz unpersönlich durfte man eine solche Situation nun auch nicht gestalten –, wurde sie von Scham ergriffen.
   © Acta litterarum 2009