Renate Solbach: Camera inversa | Schreibgeräte 1/1
Die
Erinnerung – sie musste diesem Phänomen auf die Spur kommen – war eine
befremdliche Instanz. Es waren kritische Minuten gewesen, in denen man
den Preis für das Geborensein bezahlt. Der Hauch des Todes hatte sie
gestreift und eine leise Erkältung lag seither auf jeder Empfindung.
Eine nie mehr zu entfernende Entfernung. Was geschah, wenn er allein
war? Die Bilder schoben sich ineinander. Ein Frösteln, das die Wärme
des Ortes wie eine Gänsehaut überzog. Wohin würde der Zug sie bringen?
Das war die erste Reise gewesen. Die lange Zugfahrt von Deutschland
hierher, an einen ihr unbekannten Ort. Sie wusste nicht, was sie
erwarten würde. Sie wusste nur, sie hatte eine Verabredung, der sie
unbedingt nachkommen musste. Dieser Reise vorausgegangen war der Tod
des Vaters. Wie immer, wenn einem etwas Existenzielles widerfahren war,
erwiesen sich die Verbrennungen, die eine solche Erfahrung hinterließ
als äußerst schmerzhaft, nicht vergleichbar jedoch, mit den
Verheerungen, die die Kälte des Todes anrichtete. Der lodernde Schmerz
war das Zentrum eines alles verzehrenden Feuers. Unerträglich in der
Anwesenheit, blieb in der Erinnerung nur seine Intensität haften. – Sie
war hineingeschlittert, ohne zu wissen, wie ihr geschah. Den ganzen
Vormittag war sie durch die Stadt geirrt. Verhangen die Gedanken wie
die Stadt im Nebel. Endlich der Durchbruch der Sonne. Sie brachte keine
Klarheit. Daran war in dieser Stadt – bisher jedenfalls – nicht zu
denken. Die Sonne verringerte nicht die diffuse Distanz, die der Nebel
geschaffen hatte. Sie veränderte deren Qualität.
© Acta litterarum 2009