Renate Solbach: Camera inversa | Schreibgeräte 1/1
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Es war das Licht. Immer war es das Licht. Am Morgen – von der Brüstung des Aussichtsplatzes auf dem Monte Berico aus gesehen – lag der Nebel wie ein riesiges Laken über der Stadt. In den Straßen, zwischen den alten Häusern lag er, quoll durch Fenster und Türen. Rückte alles in eine diffuse Distanz, schuf eine milchige Realität. Am späten Vormittag dann griff eine gigantische Hand sich das Laken und zog es einfach fort. ›Die Enthüllung des Kunstwerks.‹ Sie fand das Bild weder besonders originell, noch glaubte sie an ein höheres Wesen oder eine anonyme Macht, die ihr Werk verrichtete. Die Stadt selbst rief es hervor, die Kulissen-, die Theaterstadt, die Stadt der lebenden Toten. Sie bot sich dem Auge dar, wie eine allgefällige Inszenierung.
War es das Licht, das sie wieder hierher geführt hatte nach all der Zeit? Zwei Jahre, immerhin. Zwei Jahre, die den Zuschnitt ihres Lebens grundlegend verändert hatten. Auf Noras Schoß lag die Kladde, die sie immer mit sich führte und in die sie auch jetzt  Eindrücke notierte, des Tages... nein, fast könnte man sagen dieser einnehmenden, alles okkupierenden Trance, in der sie sich zuweilen nach einem längeren Gang durch die Stadt auf dem Bett ihres Zimmers wiederfand. Des Zimmers, das dem ihres ersten Aufenthaltes in dieser Stadt so sehr ähnelte und doch – vor allem was das Licht und die Stimmung betraf – sich ebenso stark unterschied. Ein Negativ. Wie oft hatte sie diesen Ort in manchem schwer zu ertragenden Moment im inneren Auge erstehen lassen.
   © Acta litterarum 2009