Renate Solbach: Camera inversa
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Damals hatte sie
nicht gewusst, was sie erwartete, sie wusste nur, dass etwas zu Ende
gegangen war. Die allein unternommene Zugfahrt – zeitweise hatte sie
gehofft, sie möge endlos dauern, doch der Wunsch war von Furcht und
Unsicherheit diktiert – hatte ihr geholfen, zur Ruhe zu kommen und die
Gedanken zu ordnen. Drei Tage nach dem Tod des Vaters, hatte sie die
Reise unternommen. Das Begräbnis fand ohne sie statt. Bis zum letzten
Atemzug hatte sie bei ihm ausgeharrt. Nun wollte sie ihn
treffen. Das erste Mal allein. Der kurze Zwischenstop in Verona hatte
die Erwartungen gespannt, aber auch die Zweifel an der Richtigkeit der
Reise erneut geschürt.
Ein eiskalter Sog, der sie mit sich
fortziehen wollte, so hatte sie den Tod des Vaters erlebt. Ein Sog,
gegen den ihr Körper sich mit aller Kraft gestemmt hatte. Kein
persönlicher Tod. Eine anonyme Macht, die alles mit sich fortriss, was
ihr in die Quere kam. Seine Erscheinung am Bahnhof. Sein
Gesicht, gezeichnet von einer Mischung aus Erschöpfung und Freude,
schwemmte alle Zweifel auf einen Schlag fort. Oder war es einfach nur
das Spiel von Hell und Dunkel? Die Sonne stand bereits tief. Sie
stemmte den Koffer aus dem Zug – wieder einmal hatte sie für alle
Eventualitäten gepackt – und fiel ihm, der ihr Gepäck gleich übernehmen
wollte, mit einem mehr gehauchten »Nicht doch!« um den Hals. Sie war
angekommen, ohne am Ziel zu sein. Der Weg dorthin mochte den Rest des
Lebens dauern. Geboren im Land des fortgesetzten Schweigens.
© Acta litterarum 2009