Renate Solbach: Camera inversa | Schreibgeräte 1/4
Damals hatte sie nicht gewusst, was sie erwartete, sie wusste nur, dass etwas zu Ende gegangen war. Die allein unternommene Zugfahrt – zeitweise hatte sie gehofft, sie möge endlos dauern, doch der Wunsch war von Furcht und Unsicherheit diktiert – hatte ihr geholfen, zur Ruhe zu kommen und die Gedanken zu ordnen. Drei Tage nach dem Tod des Vaters, hatte sie die Reise unternommen. Das Begräbnis fand ohne sie statt. Bis zum letzten Atemzug hatte sie bei ihm ausgeharrt. Nun wollte sie ihn treffen. Das erste Mal allein. Der kurze Zwischenstop in Verona hatte die Erwartungen gespannt, aber auch die Zweifel an der Richtigkeit der Reise erneut geschürt.
Ein eiskalter Sog, der sie mit sich fortziehen wollte, so hatte sie den Tod des Vaters erlebt. Ein Sog, gegen den ihr Körper sich mit aller Kraft gestemmt hatte. Kein persönlicher Tod. Eine anonyme Macht, die alles mit sich fortriss, was ihr in die Quere kam. Seine Erscheinung am Bahnhof. Sein Gesicht, gezeichnet von einer Mischung aus Erschöpfung und Freude, schwemmte alle Zweifel auf einen Schlag fort. Oder war es einfach nur das Spiel von Hell und Dunkel? Die Sonne stand bereits tief. Sie stemmte den Koffer aus dem Zug – wieder einmal hatte sie für alle Eventualitäten gepackt – und fiel ihm, der ihr Gepäck gleich übernehmen wollte, mit einem mehr gehauchten »Nicht doch!« um den Hals. Sie war angekommen, ohne am Ziel zu sein. Der Weg dorthin mochte den Rest des Lebens dauern. Geboren im Land des fortgesetzten Schweigens.
   © Acta litterarum 2009