Renate Solbach: Camera inversa
| Schreibgeräte 9/2
Auf der anderen
Seite ein Warten. Worauf? Darauf, dass sich etwas herstellt und
verbindet? Immer wieder Warten auf ein Erzählen, eine Sprache, die
anders ist als bisher. Woher aber soll sie kommen? Dunkel ahnte er, dass er durch die Kunst des Ausdrucks eine gefangene Wahrheit zu befreien habe.
Der Bestand der Dinge. Das Fehlende. Die Dinge, die sich durch das
Fehlende charakterisieren, aus ihm leben, ohne seiner habhaft zu
werden. Festgeschrieben wird das, was ›herausfällt‹ bei der Abstraktion
– diesem Rüttelsieb des Verstandes –, zum Rest, zum Unsicheren,
Flüchtigen, im Sinne dessen, das keinen Bestand hat. Es wird zum
Bestimmungsfaktor des Sicheren – wie die Bestimmung von Krankheiten aus
dem Urin, den Ausscheidungen –, oder anders gewendet, die Bestimmung
des im Feuer Verbrannten aus der Schlacke. Die Via Negationis, die die
Moderne betreten hat, nachdem alles positiv bestimmt schien. Nora
konnte sich noch immer nicht entschließen, die Augen zu öffnen. Jeder
Morgen war ein Sammeln, ein Einsammeln dessen, was sich über Nacht
verflüchtigt und zerstreut hatte und im Erwachen in Form von erst
unspezifischen, dann immer stärker sich kristallisierenden und
schließlich langsam aber gewiss in die Tagessicherheit übergehenden
Gedanken im Kopf tummelte. Selten erinnerte sie die Träume, die sie im
Schlaf heimgesucht hatten.
Langsam zog ein Schmerz herauf und
setzte sich in Höhe der Schläfen pochend fest. Sollte es ein wenig
zuviel des Guten gewesen sein? Ein Brummschädel. Auch das noch. Sie
hatte dem Absinth am vergangenen Abend lebhafter zugesprochen als
sonst. Die Verzauberung der Umgebung im Grün? Jeder Blick ins Glas
hatte sie intensiver werden lassen. Vincent van Gogh, Pablo Picasso und Oscar Wilde waren bekennende Liebhaber »der grünen Fee« mit berauschender Wirkung. Vielleicht sollte sie zum ›kleinen Gelben‹ wechseln. Mit Wasser verdünnter Pastis war sicher weniger gefährlich.
© Acta litterarum 2009