Renate Solbach: Camera inversa
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Am
nächsten Tag erwachte Nora später als sonst. Und wieder als erstes
Geräusch des Morgens dieser gleichmäßig herabströmende Regen. Sie hielt
die Augen geschlossen und tastete mit der Hand suchend nach links. Sie
spürte noch die Wärme, die sein Körper zurückgelassen hatte. Ob Andreas
ohne sie zum morgendlichen Gang auf den Monte Berico aufgebrochen war?
Leise Wehmut querte ihr Gemüt. Er fehlte ihr bereits, obwohl sie seine
Abwesenheit vor ein paar Sekunden noch gar nicht gewusst hatte. Der
Abgrund des Schlafes, der alles zweiteilt.
Ein Paar war ein
Ganzes. Nicht, dass nicht jede der beiden Personen in und für sich ganz
wäre. Aber zusammen waren sie mehr als die Summe dieser zwei. Das
Paarsein macht etwas anderes aus dem anderen. Die unterschiedlichen
Seiten der Person werden herausgefiltert. Vorsicht oder sollte sie
sagen ›Umsicht‹ war geboten. Dann
kam die Morgendämmerung, und sie sagte sich, wahrscheinlich war es
niemandem möglich vollkommen aufrichtig zu sein, ob man nun Tag für Tag
in nächster Nähe lebte oder weit voneinander entfernt, und dies war
vielleicht die schrecklichste Bedingung unter der die Leute ihr Leben
hinbrachten. Vollkommen aufrichtig? Aber es war so schwierig zu
unterscheiden. Identische Rede ist nicht identisch, achtet man auf ihre
Intentionen und Motive. Wenn das Ungewöhnliche nun nichts weiter als
das Gewöhnliche ist, auf das der Blick fällt und es mit erhöhter
Aufmerksamkeit ausstattet. In Bezug auf was sollte es sonst
ungewöhnlich sein? Nora fiel ein wenig tiefer in den morgendlichen
Graben zwischen Wachen und Schlaf. Diese merkwürdige Gefasstheit. Alles
wegwerfen oder verbrennen.
© Acta litterarum 2009