Renate Solbach: Camera inversa
| Schreibgeräte 8/1
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Nicht
weil man unerwünscht auf die Welt gekommen, nicht weil man in der
Kindheit geschlagen wird, die Mutter psychisch krank, der Vater in
Bezug auf die Vergangenheit nicht so unschuldig ist, wie er sich gibt,
schreibt man. Und doch – solche Erfahrungen sind es, die dich formen, die es aus dir heraus treiben.
Ach was! Das geschieht nur, wenn es etwas herauszutreiben gibt. Das
Jammern über eine unglückliche Kindheit, über erfahrenes Leid, reicht
nicht hin, die Seiten zu füllen, literarisch überzeugende Texte zu
produzieren. Solche Konstellationen können jedoch die Entwicklung von
Fähigkeiten begünstigen, die dem Schreiben von Nutzen sind. Die genaue
Beobachtungsgabe zum Beispiel, das Erspüren von Stimmungen,
Atmosphären, das befähigt, das nächste Gewitter vorher zu ahnen, der
Wunsch nach Differenz und Eigenständigkeit, Ausdauer, auch wenn alles
gegen einen spricht. Der Rest ist Zugabe, die sich einstellt oder
nicht. ...und dass die Gegenwart nie
die ganze Gegenwart ist, sondern erst im Rückblick und in der Erzählung
Tiefe und Farbe bekommt, dass man sie überleben muss, um sie zu
gewinnen.
Sein Schreiben war in keinster Weise das, was man heutzutage autobiographisch nannte. ...und
dass Biografien keine heimlichen Botschaften mehr enthielten, um
derentwillen sie überhaupt geschrieben wurden, sondern nichts anderes
waren als Biografien, sorgsame Erinnerungen, Wissenspartikel für
Liebhaber. Für Nora schimmerte das Leben an allen Ecken und Enden durch: wie das Unterzeug eines auf den Leib geschneiderten Anzugs.
© Acta litterarum 2009