Renate Solbach: Camera inversa
| Schreibgeräte 7/3
Was hatte sie so
verwirrt an Andreas Manuskript? War es die Art und Weise, wie das
Geschriebene sich vor ihren Augen ordnete? Die kleinen Verschiebungen
ließen den Text in neuem Licht erstrahlen. Sie
war weit weg, wenn sie las, ich weiß nicht, ob sie im Buche war; sie
konnte lesen, stundenlang, sie blätterte selten um, und ich hatte den
Eindruck, als würden die Seiten immer voller unter ihr, als schaute sie
Worte hinzu, bestimmte Worte, die sie nötig hatte und die nicht da
waren. Die Situation hatte sich verändert und mit ihr das
Lebensgefühl. Auf einmal war der Text ein anderer. Das war nichts
Ungewöhnliches. Ungewöhnlich war die Nähe. Sie schaute zu, wie ein
Leben sich in Text verwandelte. Er kam zu beiden Türen herein, aus dem
Leben und der Literatur. Viele
können es nicht vertragen, wenn sie die Liebe verehlichter Leute so
zärtlich abgeschildert sehen als die Liebe zwischen unverehlichten,
weil man sieht, dass die meisten Ehen die Liebe eher auslöschen als
vermehren.
© Acta litterarum 2009