Renate Solbach: Camera inversa | Schreibgeräte 7/2
Die Übertragung ins Notebook half, die Dinge mit anderen Augen zu sehen und – wieder meldete sich Noras Schuldgefühl und kitzelte ihre Eigenliebe beträchtlich – zu diesem Zweck war Hannah eine ebenso hilfreiche wie überraschende Person gewesen. Nora wusste, es käme die Zeit, wo sie sich ernsthafte Gedanken machen müsste, ob es nicht voreilig gewesen war, sie so kühl zu verabschieden. Denn bei der Rückkehr würde es schlimmer sein, als wenn sie nie weggegangen wäre. Der Gedanke war eigenwillig. War Hannah die Schreibende und Nora, die (Er-)Lebende. Eine weitere Verkehrung des Blicks? War das jemals eindeutig festzulegen? Sie hatte Hannahs Namen benutzt. ›Ich‹ ist nur ein zweckmäßiges Wort, für jemanden, den es nicht wirklich gibt. Aber das konnte unmöglich das Übel sein. Der Name macht nicht die Person. Noras Verwirrungen mischten sich, kontaminierten einander. Sie war dem Sinn ihrer Reise noch immer nicht auf den Grund gekommen. Ich erinnere mich, undeutlich schwirrten mir Reisepläne durch den Kopf. Im Gehen sah ich die langen Zahlenreihen mit den An- und Abfahrtszeiten auf den Fahrplantafeln vor mir und genoss im Voraus die Begegnung mit Namen von unbekannten Städten. Sie würden den Geschmack von Salz hervorrufen auf meinen Lippen, die Gischt des Meeres auf meinem Gesicht, den Schauer auf der Haut, all das beim Gedanken an leere Sandflächen unter einem grauen Himmel. Nichts geschah. Die Tage dehnten und streckten sich endlos wie die Straßen der Stadt, auf denen sie umherwanderte. Kein Plan existierte, der vorschrieb, wie Erleben und Schreiben vonstatten gingen. Sie konnte nicht einfach voraussetzen, dass die Umstände sich immer gleich förderlich erwiesen. Im Laufe der Zeit hatte sie begriffen, dass auch kontinuierliche Arbeit (kam dieser Rat nicht von Baudelaire?) über solche Perioden hinweghalf und eine eigene Form der Inspiration hervorrief.
   © Acta litterarum 2009