Renate Solbach: Camera inversa | Schreibgeräte 10/2
»Also, das war wirklich ein eigenartiger Traum, aus dem du mich da eben hochgeschreckt hast«, unterbrach Nora das Schweigen. Andreas betrachtete sie aufmerksam. »Ich werde nachher versuchen, ihn festzuhalten. Das ist Material für meine Kladde.« Sie lachte verlegen. »Hmm, vielleicht sind seine Bilder ja zu verwenden. Wie du weißt, bin ich immer noch auf der Suche. Doch dazu muss ich mir erst einmal klar werden über ihre Bedeutung. Und ob es mir dann gelingt, die passenden Worte zu finden? Die Bilder sind so deutlich, wenn sie dir vor Augen stehen. Schichten und Ablagerungen aus unterschiedlichsten Quellen und Zeiten. Na, du weißt ja, wie das so ist mit den Träumen.« Andreas zog die Augenbrauen hoch und  blickte Nora bedeutungsvoll an. »Wenn es dein Thema ist, werden die Worte schon kommen, du kennst meine Einstellung.« Sie wandten sich wieder nach unten, der Stadt zu, und verharrten noch eine Weile. Der tägliche Wechsel des Blicks – der Überblick vom Monte Berico aus und das anschließende Eintauchen in die Straßen und Gassen der Stadt – produzierte überraschende Einsichten und Wirkungen. In gewisser Weise war er Metapher für ihr Tun, für den notwendigen Standortwechsel, um den Dingen gerecht zu werden. Nora war noch ein wenig benommen von der Flut der Bilder. Orientierung war nötig und unwillkürlich dachte sie an Kassandra und ihr Rätsel. Sie trat von der Brüstung zurück. Sie würde Abbitte tun und mit Hannah reden. Die Gegenwart des Mythos, die Wiederbelebung der Bilder, die überall und jederzeit möglich war, erzeugten ein Prickeln in den Fingerspitzen. War das Schreiben nicht selber ein Mythos? Und in diesen Dingen war Hannah bewanderter als sie.
   © Acta litterarum 2009