Renate Solbach: Camera inversa | Schreibgeräte 10/3
Nora suchte das Identische in der Erinnerung und fand das Andere. Das Identische war immer ein Anderes, war nie es selbst. Das hatte die Stadt sie gelehrt. Das Phänomen der Erinnerung, die man als Identische aufrief, und die im Nachdenken ihr anderes Gesicht offenbarte. Prousts Suche nach der verlorenen Zeit, die im Ausfalten der Erinnerung ihre Gewinnung bedeutete in der Spannung zwischen Mémoire involontaire und dem Willen. Dem Willen zu was? Sie fragte sich, wieviel Lebenszeit man darauf verwendete, Dinge zu begreifen, die längst begriffen waren, sich aber so oder anders in jedem Leben neu als Frage stellten, die es zu beantworten galt oder zu verdrängen, mit dem Ergebnis, dass sie zu einer Zeit hereinschneiten und durch eine Tür eintraten, an der man sie nun wirklich nicht erwartet hätte. ...nichts ist schöner, als in einem Bahnhofscafé in der Provinz die Zeit totzuschlagen. Totschlag der Zeit. Welcher? Der eigenen, der der anderen, der in der man lebte oder der Zeit an-sich? Gab es so etwas? Er sah nur, dass es schon wieder nur darum ging, Zeit totzuschlagen, und daß er, soweit er zurückdenken konnte, nichts anderes getan hatte, als eben dies: Zeit totzuschlagen. Ein liebloses unproduktives Abwarten und am Ende sollten die Liebe und die Produktivität sein. Aber immer reihte sich nur ein neuer Anfang des Wartens an das Ende des Wartens.
   © Acta litterarum 2009