Renate Solbach: Camera inversa | Schreibgeräte 10/4
Das Warten der Gleise in der Mittagshitze, das sich im leisen Surren materialisierte. Bilder einer falschen Idylle. Wieviele Filme hatte sie gesehen, die mit Unkraut überwachsene Gleise zeigten? In Großaufnahme. Die einsame Draisine, die dahinrollte. Zeichen einer vergangenen Welt? Träges Dösen von Mensch und Umgebung, ehe der nächste IC donnernd vorbeirollte. Ohne das Nest, das keinen Haltepunkt in seinem Fahrplan bot, auch nur eines Blickes zu würdigen, enteilte der Zug der Landschaft. Zaudern und Aufbruch. Eine Mischung aus Reitz’ Heimat und Italo-Western. Totschlagen. Und dann? Gab es die Zeit dann nicht mehr? War sie endlich vergangen? In Wahrheit glaubt nur der naive Trinker, die Zeit zu prellen, während eigentlich wir selbst oft die Geprellten sind, indem die Stunden mit sicheren und abgemessenen Schritten jenseits unserer Zeitrechnung verlaufen. Das Waffenklirren der Sprache stand in irritierendem Gegensatz zur Behauptung der Person. Dieses Ich, das erinnerte, erinnerte wie und wo es sich fand. Vor Ladentüren, auf Steintreppen, Parkbänken und Dachterrassen unter dem Sternenhimmel. All die Lebenserinnerungen, in denen es sich inszenierte als originärer Fund im Alter zwischen sagen wir sieben und zwölf. Ausnahmen gab es immer. Sich das Wort auf der Zunge zergehen ließ, erschrak, errötete, das Herz klopfen machte vor Erregung. Wozu? Wieso? Ausgerechnet jetzt. Wielange sagt man ›Ich‹ ohne (s)ich zu realisieren? Was sagt ein Ich, das sich so inszeniert? In die Erinnerung drängt sich die Gegenwart ein und der heutige Tag ist schon der letzte der Vergangenheit. So würden wir uns unaufhaltsam fremd werden ohne unser Gedächtnis an das, was wir getan haben, an das, was uns zugestoßen ist. Ohne unser Gedächtnis an uns selbst.
   © Acta litterarum 2009