Renate Solbach: Camera inversa | Schreibgeräte 10/5
Nora legte die Hand wieder auf die Brüstung, als suche sie Halt im Schwindel der Gedanken. Der Nebel lag noch immer über der Stadt. Heute würde er sich wohl nicht mehr lichten. Der Wunsch, in ihn einzutauchen, wurde drängender. »Komm, lass uns gehen. Hier gibt es nichts mehr zu sehen.« So stiegen sie auf der anderen Seite des Berges die Treppen hinab, an deren Ende ein Torbogen sie in die Straßen der Stadt entließ, nicht ohne zuvor noch einen Blick auf die steinernen Zeugen einer vergangenen Zeit zu fordern, der sogleich im Speicher der Erinnerung versank, um – vielleicht – zu gegebener Zeit gehoben zu werden.
Doch all das konnte, es musste warten. Jetzt wollte sie die restlichen Tage einfach genießen. Das andere war eine Sache jenseits des Zeitgrabens. Nora hätte der Person auf der gegenüberliegenden Seite zuwinken mögen. Die Zeit aber war noch nicht gekommen.
   © Acta litterarum 2009