Anne Corvey: Camera inversa | Hannahs Traum 1/3
Schreiend war Hannah erwacht, ehe das Entsetzliche – was das wohl sein mochte? – geschehen konnte. Der Schrei und die Tränen hatten sie gerettet, hatten verhindert, dass ›es‹ geschah.« – Etwas war falsch an dem Text. Wieder standen andere Sätze da als die, die sie vor Augen gehabt hatte. Die Sätze hinter den Sätzen hatten sich ihren Weg aufs Papier gebahnt. Die Leichtigkeit der Aufgabe entpuppte ihre Schwere. Es kommt daher, dass die Nacht sie so verändert, ihr die Vernunft weg nimmt. Sie darf nur nie, auch nicht in der größten Bedrängnis vergessen, das es wieder Tag werden muss. Bestand sie in der Distanzierung? Die Autorin rang mit dem Personal. Hannah war der mythische Teil der Person und es galt, sich zu entscheiden. Wollte sie die Distanz, die den analytischen Blick erlaubte oder wollte sie die authentische Wiedergabe, das Nachempfinden des Entsetzens, das den Leser im Raum dieses Entsetzens verharren und eigene Schlüsse ziehen ließ? Dabei war die Entscheidung längst gefallen. Sie hatte sich den Wörtern und Sätzen anvertraut, auch wenn sie vielleicht von einem anderen Text träumte. Der Traum, das Zusammenschießen unmöglicher Orte und Zeiten zu einer als wahr gefühlten Einheit. Er sperrt sich der Erzählung. Von der Kausalität des Erzählfadens an die Hand genommen, verliert er seine Befremdlichkeit und wird in seiner Paradoxie fassbar. Erzählt wird er zu einer Geschichte unter anderen. Die Wand. Ein Albtraum entzieht sich dem Erzählen erst recht. Entsetzen spielt auf einer anderen Ebene. Die reine Erzählung der geträumten ›Fakten‹ eliminiert es, macht es banal oder lächerlich und einer nicht dem Mythischen verhafteten Person suspekt. (Auch der Surrealismus war da längst kein Mittel mehr, hatte sich eingegliedert in die Sehgewohnheiten: Achtung! Traumarbeit.)
   © Acta litterarum 2009