Renate Solbach: Camera inversa
| Hannahs Traum 1/3
Schreiend
war Hannah erwacht, ehe das Entsetzliche – was das wohl sein mochte? –
geschehen konnte. Der Schrei und die Tränen hatten sie gerettet, hatten
verhindert, dass ›es‹ geschah.« – Etwas war falsch an dem Text. Wieder
standen andere Sätze da als die, die sie vor Augen gehabt hatte. Die
Sätze hinter den Sätzen hatten sich ihren Weg aufs Papier gebahnt. Die
Leichtigkeit der Aufgabe entpuppte ihre Schwere. Es
kommt daher, dass die Nacht sie so verändert, ihr die Vernunft weg
nimmt. Sie darf nur nie, auch nicht in der größten Bedrängnis
vergessen, das es wieder Tag werden muss. Bestand sie in der
Distanzierung? Die Autorin rang mit dem Personal. Hannah war der
mythische Teil der Person und es galt, sich zu entscheiden. Wollte sie
die Distanz, die den analytischen Blick erlaubte oder wollte sie die
authentische Wiedergabe, das Nachempfinden des Entsetzens, das den
Leser im Raum dieses Entsetzens verharren und eigene Schlüsse ziehen
ließ? Dabei war die Entscheidung längst gefallen. Sie hatte sich den
Wörtern und Sätzen anvertraut, auch wenn sie vielleicht von einem
anderen Text träumte. Der Traum, das Zusammenschießen unmöglicher Orte
und Zeiten zu einer als wahr gefühlten Einheit. Er sperrt sich der
Erzählung. Von der Kausalität des Erzählfadens an die Hand genommen,
verliert er seine Befremdlichkeit und wird in seiner Paradoxie fassbar.
Erzählt wird er zu einer Geschichte unter anderen. Die Wand. Ein
Albtraum entzieht sich dem Erzählen erst recht. Entsetzen spielt auf
einer anderen Ebene. Die reine Erzählung der geträumten ›Fakten‹
eliminiert es, macht es banal oder lächerlich und einer nicht dem
Mythischen verhafteten Person suspekt. (Auch der Surrealismus war da
längst kein Mittel mehr, hatte sich eingegliedert in die
Sehgewohnheiten: Achtung! Traumarbeit.)