Renate Solbach: Camera inversa
| Hannahs Traum 1/26
Ein
Satz gibt den Hinweis. Ein Fingerzeig im Buch. Ein harmloser kleiner
Satz, dazu bestimmt, immer wieder überlesen zu werden. Hier und da eine
Saite zum Klingen zu bringen. Verstimmt. Verärgert. Verängstigt.
Gerissen. Bei denen, die miterlebten. Inzwischen lauter alte Frauen.
Die hatten doch frei oder nicht? Lauter Endmoränen. Nun komm schon. Ein
Donnerschlag ließ das Geschirr auf dem Herd klappern. Es musste ganz in
der Nähe eingeschlagen haben. Die Bombennächte im Keller fielen mir
ein, und die alte Furcht ließ meine Zähne aufeinanderschlagen. Auch die
Luft war so dick und schlecht wie damals im Keller. Johanna, die
Schwester von Noras Vater, steckte man 1941 in eine fesche Uniform (die
erhaltenen Fotos hatte Nora stets mit einer Mischung aus Amüsement und
Gruseln betrachtet), drückte ihr eine Pistole in die Hand, und schickte
sie als Nachrichtenhelferin nach Paris. Ihre schönste Zeit! Sie wurde
nicht müde, das bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit zu
wiederholen. Der Heimaturlaub war ernüchternd. Kein Krieg konnte den
ewigen Streitereien der Eltern Einhalt gebieten. Johanna zückte kurz
entschlossen die Pistole, fuchtelte mit ihr in der Luft herum und
schrie: »Hört endlich auf, oder ich schieße!« Ein Blitzmädel. Ihr Mann
wusste nicht mehr, wie oft er die Geschichte gehört hatte. Die
Kindheit war nicht sanft und idyllisch, sondern der Schauplatz wilder,
erbitterter Kämpfe unter der Maske rosiger Wangen, runder Augen und
unschuldiger Lippen. So mörderisch waren diese Kämpfe, dass die meisten
Menschen sie entsetzt zu vergessen suchten und sich einbildeten, sie
seien nach Jahren oberflächlicher Spiele und leichtgestillter Tränen
erst zum wahren Leben erwacht. Seine Johanna war wohl, was man
eine beherzte Frau nannte. Karl hatte nie gewagt, seine Geschichte
dagegen zu setzen. Nora war Karls Liebling gewesen und so hatte sie in
einer vertraulichen Stunde von ihr erfahren.