Renate Solbach: Camera inversa
| Hannahs Traum 1/25
Tod
des ›wahren Wortes‹ durch die Ware Wort? Es musste eine Macht des
Wortes geben, von der die Macht sich herausgefordert und gefährdet sah.
Warum sonst musste sie den Menschen des (denkenden und poetischen)
Wortes schnellstens den Mund versiegeln, sie in Konzentrationslager und
Gefängnisse werfen (auf der ganzen Welt). Warum kontaminierte man die
Manuskripte unerwünschter Literaten, damit sie am eigenen Wort zugrunde
gingen? Das sei das andere Deutschland gewesen? Schon wieder? Warum
schoss man einem schwulen Dichter in den Hintern? Seine Verse lebten
doch weiter. Oder? Was die Gewehre nicht erledigt hatten, erledigte der
Markt. Er feierte die Worte ab, bis der Gedanke erledigt war. Oder nahm
ihn erst gar nicht zur Kenntnis. Solange, bis er – in toter Eintracht
mit den leeren Geschosshülsen – umherlag auf den Brachfeldern
menschlichen Geistes.
Der Gedanke muss wie Dornröschen auf den
Leser warten, damit der Prinz es befreien kann. Manchmal geschieht es,
wie es Marlen geschah. Die große Mutter, der Chor der Weiber oder das
Heer der Schwestern befreite den Gedanken aus seinem Tiefschlaf. Führte
ihn heim ins Reich der Ideologie. Marlen. Auch du hättest dir
verwundert die Augen gerieben. ...war
ich eigentlich heute morgen beim Aufwachen dieselbe wie gestern früh?
Ich meine fast, ich bin mir da schon ein bisschen anders vorgekommen.
Wenn ich aber nicht dieselbe bin wie gestern, wer um Himmels willen bin
ich denn dann?