Renate Solbach: Camera inversa | Hannahs Traum 1/24
Nora verstand mit einem Schlag Claires Schwierigkeiten. Konnte man eine solche Geschichte erzählen? Das war beileibe keine dieser Anstandsfragen, für die Frauen ja immer irgendwie zuständig waren oder sich zuständig fühlen – das erlaubt ist was sich ziemt, wie es in Goethes Tasso steht. Eine nicht zu zerlegende Einheit. Eine Frage des Überlebens? Aber man konnte sich nicht gegen jemanden wehren, der gewohnt war, sich ausschließlich in der Rolle des Opfers zu sehen. Immer ist das Schreiben eine Frage des Überlebens. Des Überlebens eines Gedankens in einer gedankenlosen Welt. Einer Welt, die gerade diesem Gedanken feindlich gesonnen ist. Manchmal sogar, weil sie das für eine Frage des Überlebens hält. Leben im Land des fortgesetzten Schweigens. Wenn der Gedanke sich mitteilt, kann es geschehen, dass er getötet wird, abgetrieben, ermordet, erschossen oder mit Anerkennung und Preisen überhäuft, so dass er in seinem prächtigen Gewand nicht mehr zu erkennen ist. Ein erzählter Gedanke ist eingekleidet, verkleidet, ausstaffiert, umhüllt, ausgeschmückt, gerettet, mit allen Implikationen, die jede dieser Zuschreibungen enthält und mit allen Folgen, die daraus erwachsen können.
   © Acta litterarum 2009