Renate Solbach: Camera inversa | Hannahs Traum 1/23
Nora atmete tief durch. Namen aus der Geschichte der Literatur tauchten auf. Zahlreich. Gaben ein beeinduckendes Defilée. Das Problem Leben und Schreiben in Übereinstimmung zu bringen, vor allem aber die Notwendigkeit der Sicherung des Lebenunterhaltes und die damit verbundenen künstlerischen Probleme – seien es die des Erfolgs oder des Nichterfolgs – zeichneten nicht nur die Biographien vieler inzwischen zum Bildungsgut gehörender Schriftsteller, sie zogen sich wie ein roter Faden durch ihre die Legitimation und Bedingungen des Schreibens reflektierenden Aufzeichnungen. Leben in verschiedenen Welten. Erfolg oder Vergessen. Emphase und Verzweiflung. Diese frühe Stunde, ununterschieden zwischen Schlaf und Erwachen. Zu niemandem gehörig. Nicht Tag nicht Nacht. Selbstvergessene Weite, in vollkommener Stille. Aber sie durfte sich jetzt nicht beirren lassen, damit der Gedanke, der blitzartig eingeschlagen war, sich nicht einfach mit dem nächsten Donner wieder aus dem Staub machte, auf Nimmerwiedersehen. Die deutsche Variante der Geschichte der Emanzipation war die Geschichte einer fortgesetzten Verstörung. Die Frauen stilisierten sich zu ewig Benachteiligten der Geschichte, wollten nie wieder Opfer sein. Das warf die unvermeidliche Frage auf, ob sie jemals nur Opfer gewesen waren. Die Wand. Die unsichtbare Wand. Das Tabuthema. Das böse Zimmer, das nicht betreten werden durfte. Oder war es das dreizehnte? Aus der eisernen Truhe begann das Böse in den Raum zu sickern. Es stieg bis an die Knöchel und Lieserl musste die Beine hochziehen. Aber es dauerte nicht lange und es stieg unaufhaltsam höher. Immer höher stieg es und höher. Wenn es dann Lieserls Brust erreicht hatte, entfärbte sich der Himmel, und die Kastanienblätter erstarrten als sei plötzlich jeder Lufthauch erstorben.
   © Acta litterarum 2009