Renate Solbach: Camera inversa
| Hannahs Traum 1/22
Seitdem
bin ich damit befasst, die Schalenreste zu entfernen. Eine mühselige
Arbeit. Und doch, es gibt kaum eine sinnlose Tätigkeit, die mehr
befriedigt. Manche behaupten ja, die einfachen Dinge hätten solch eine
Wirkung, aber zu dieser Auffassung muss man wohl geboren sein. Seltsame Frage. Lohnt es aufzuwachen, wenn man kein anderer geworden ist?
Festhalten. Schöpfen. Sehen, was bleibt. Was hängen bleibt vom Sinn der
Sprache. Gibt es irgendein Bild vom Gebären bis zum Sterben, das nicht
schon für das Schreiben verwendet wurde? Das nicht als Bild fürs
Schreiben stehen kann? Schreiben ist leben. Schreiben leben. Das
ungelebte Leben. Das sind all die Leben, die man hätte leben können,
wenn das eigene nicht die gesamte Zeit verschlänge. Der Schriftsteller
schreibt darüber. Nicht weil das eigene unglücklich ist. Oder doch.
Irgendwie ist jedes Leben unglücklich. Eben irgendwie. Misst man es an
anderen, fallen einem stets viel schrecklichere ein, in denen
gespiegelt das eigene mindestens glücklich erscheint. Das ungelebte
Leben in der Möglichkeit ausleben, auch das heißt schreiben – unter
anderem. Schriftsteller sind maßlose Menschen, denen ein Leben nicht
reicht. So leben sie in mehreren Welten. Vorerst
legten lediglich ihre Tagebücher beredtes Zeugnis von ihrer
Gespaltenheit und beklemmenden Unzufriedenheit mit der als
gefängnisähnlich empfundenen Umgebung ab, dauernd in mehreren Welten
leben, die durch Abgründe getrennt sind, Diese Gemütslage war wohl der
Entstehungsort der späteren Romanfiguren. Die Seiten, die sie zeitig in
der Früh oder spätnachts am Küchentisch füllte, schilderten die
Schicksale von Leidensgenossinnen, die sich gleichfalls eingekerkert
fühlten, gewissermaßen ein Doppelleben führen mussten, hin und her
gerissen zwischen realen gesellschaftlichen bzw. familiären
Anforderungen und ihren Ausbruchsfantasien. Zwischen ihr und dem Erzählen stand die Wand.