Renate Solbach: Camera inversa | Hannahs Traum 1/21
Hannah wickelte sich in ihre Bettdecke. Verdammt noch mal, wozu diese Abschweifungen. Das ganze Gestammel. Nora, bitte, schreib endlich auf, was geschehen ist. Erzähl den Traum, damit wir klarer sehen. Dauernd redest du vom Schreiben. Tu es endlich! Die Wirkung kannst du getrost dem Leser überlassen, statt dir darüber auch noch Gedanken zu machen. Wovor hast du Angst? Es war ein Kreuz. Über alles und jedes machte Nora sich ihre Gedanken, statt einfach das Naheliegende zu tun. Hannah wickelte sich fester in die Decke. Langsam bekam sie Kopfschmerzen. Sie beschloss, noch ein wenig zu schlafen. Es war erst zehn und sie hatte heute nichts vor. So ein Traum musste schließlich verdaut werden. Seufzend schloss sie die Augen und schlief augenblicklich ein.« – Auch Nora seufzte. Hmm. In Wahrheit war sie wütend. Erst lauter unqualifizierte Vorwürfe, und dann schlief sie ihr unter der Hand einfach wieder ein. Entzog sich jeder Erwiderung oder Rechtfertigung. Das war typisch für Hannah. Kurz vor einer Erkenntnis pflegte sie regelmäßig wegzutauchen. Wie verrückt doch heute alles ist, rief sie aus. Gestern war noch alles wie immer. Ob ich in der Nacht vertauscht worden bin? Wenn ich es mir genau überlege – war ich eigentlich heute morgen beim Aufwachen dieselbe wie gestern früh? Ich meine fast, ich bin mir da schon ein bisschen anders vorgekommen. Wenn ich aber nicht dieselbe bin wie gestern, wer um Himmels willen bin ich denn dann?  Eines Tages habe ich es entdeckt. Ich schreibe, weil ich schreiben will. Es schlüpfte wie das Küken aus dem Ei. Mit verklebten Augen, feucht und noch ein wenig warm. Ich weiß nicht einmal, ob ich vorher wusste, dass es da drin war, höchstens, wie soll ich sagen... theoretisch.
   © Acta litterarum 2009