Renate Solbach: Camera inversa | Hannahs Traum 1/20
Mit fünfzig sollte ich meinen Führerschein machen – hat euer Vater gesagt. Als ich jung war, ja... aber mit fünfzig. Was soll das? Und überhaupt. Mit seinem Auto hätte ich sowieso nicht fahren können. Da durfte nichts drankommen. Der Nerz habe ich bekommen, als er sich das neue Auto gekauft hat.  Seinen Traum. Von Anfang an. Ein Mercedes. Aber eigentlich war es schade um das schöne Geld. Mir solls ja egal sein. Ein Nerz, das war etwas anderes als diese Persianermäntel. Richtig teuer. Das alte Auto hätte es auch getan. Der stand ja sowieso bloß rum, damals hat das doch schon angefangen mit seiner Krankheit .« – Ein ganzes Jahr hatte die Mutter den Vater gepflegt, ›zum Tode‹ wie Nora es nannte. – »Und all die Stunden, die der Papa in der Garage verbracht hat, weißt du noch. Mein Gott. Na ja, vielleicht hätte mich das misstrauisch machen sollen. Aber ich war doch froh, dass er beschäftigt war. Und dann war es sowieso zu spät. Alles in allem haben wir eine gute Ehe geführt. Kann ich wirklich nicht anders sagen. Obwohl ich ja oft gedacht habe, dass es ein Fehler war, dass ich mich nicht getrennt habe, du weißt. Ich saß ja schon auf den gepackten Koffern als...« – Die Worte der Mutter. Worte, die bei jeder erwarteten oder unerwarteten Gelegenheit ihrem Munde entströmten. Sie schwirrten in Hannahs Kopf umher. Klarer sehen ließen sie sie nicht. Nora hatte da ihre eigene Theorie entwickelt, aber Hannah war nicht so recht überzeugt. Ziemlich hochgestochen das Ganze. Andererseits. Plausibel schien es schon, wenn man es sich recht überlegte.
   © Acta litterarum 2009