Renate Solbach: Camera inversa | Hannahs Traum 1/19
– »Wenn ich so höre, was die Frauen im Club erzählen. Davon habe ich gar keine Ahnung. Also, da hab’ ich es wirklich gut gehabt. Na ja, ich war auch ein Biest. Weißt du, das Geld für seine Überstunden habe ich ihm nie gegeben. Ich habe mich immer um alles gekümmert. Dein Vater hatte keine Lust dazu. Der hat alles mir überlassen, war mit anderen Dingen beschäftigt. Also damals, die Sache mit dieser Elvira, also – das war schon gemein. Aber ich würde es wieder so machen, wenn ich es nochmal zu tun hätte.« – Undeutlich erinnerte Hannah sich an einen warmen Frauenkörper, der unter ihre Bettdecke schlüpfte, sich ängstlich kichernd an sie drückte, an den intensiven Geruch nach Veilchen, das Geschrei der Mutter im Nebenraum, den beschwichtigenden Ton des Vaters. Sieben oder acht mochte sie gewesen sein. Verstanden hatte sie nichts. – »Wenn ich das alles höre, was die so erzählen. Geschlagen hätte mich euer Vater nie. Aber das hätte er mit mir auch nicht machen können. Als da siebenundsiebzig die Sache war, du weißt schon, mit der Kollegin, da stand es aufs Messers Schneide. Da habe ich ihm eine gescheuert. Er hat nicht zurückgeschlagen. Ich wäre gerne arbeiten gegangen. Aber das konntest du damals nicht einfach so. Das war anders als heute. Da habt ihr es wirklich gut. Damals musste der Mann einverstanden sein. Ich habs ja heimlich gemacht, du weißt, im Supermarkt. Als er es gemerkt hat, hat er nur noch gemeckert. Nichts konnte ich ihm recht machen. Später war es ihm egal. Aber da bin ich dann ja auch nicht mehr hingegangen. Sah ich gar nicht ein. Ich bin doch nicht verrückt. Die Plackerei für das bisschen Geld. Man war halt unter Menschen. Das war der Vorteil.
   © Acta litterarum 2009