Renate Solbach: Camera inversa | Hannahs Traum 1/18
Das Geschlecht ist ein gutes Versteck. Auch so eine umgebaute Erinnerung. Zweitausend Jahre Unterdrückung. Beim Wort Frau haben schon alle Mitleid. Sie schauen dich an. Ist es ein Makel oder eine Auszeichnung? Du weißt es nicht. Die blauen Augen, das dichte Haar, Brüste, ein Hintern. Du musst nicht aus der Deckung kommen. ...und obwohl der Tag hier noch gar nicht richtig angefangen hatte, war er schon bis auf den Grund zu durchschauen... Sie wollte kein Mitleid. »Wenn du erst in meinem Alter bist, wirst du sehen, dass ich Recht habe.« Die Worte des Vaters. Hätte er mit einem Sohn auch so gesprochen? Wahrscheinlich. Schließlich nahm sie die Stelle des Sohnes ein, den der Vater sich gewünscht hatte. Natürlich nicht. Er hatte keinen Vater, hatte keinen Sohn. Imaginierte beide. Ganz anders die Mutter. »Das ist nichts für dich Kind. Damit brauchst du dich nicht zu belasten. Wozu die ganze Plackerei. Später wirst du heiraten und Kinder bekommen. Wenn du so weitermachst, bekommst du nie einen Mann. Männer mögen keine intelligenten Frauen. Nimm dich vor ihnen in acht. Die wollen nur das eine. So eine Geburt ist eine schlimme Sache. Alles bleibt an uns Frauen hängen. Ich wär’ beinahe draufgegangen bei deiner Geburt. Ich hätte keine Kinder mehr kriegen dürfen. Aber sag das mal einem Mann. Dein Vater, na ja..., nun lebt er ja nicht mehr und über Tote soll man nicht schlecht sprechen. Deine Schwester war ein Unfall, aber mit deinem Vater war ja nie zu reden. Der hatte immer seinen eigenen Kopf.« – Hannah versuchte, sich den Vater ohne Kopf vorzustellen. Vom Willen der Mutter gelenkt, eine Marionette. Ferngesteuert. Hinter jedem großen Mann steht eine starke Frau. Die Worte der Großmutter: Männer dürfen alles essen, aber nicht alles wissen.
   © Acta litterarum 2009