Renate Solbach: Camera inversa | Hannahs Traum 1/17
Die erste Evidenz – eine, die sich auf eigenes gerichtet hatte – war dahin. Alle möglichen Nuancen und Facetten tauchten auf und vergingen wieder. Was war richtig daran, was falsch? Konnte man es mit einem solchen Maßstab überhaupt messen? Nora grübelte über dem Bild. Hannah hingegen las wo sie ging und stand, mit erbitterter Emphase. In diesem Fall war sie schon fortgeschritten. – »Wieso der Hass auf meinen Sohn? Die Mutter hatte keinen Sohn, nur einen Mann und zwei Töchter. Und Hass. Auf die Männer. Davon jede Menge. Das war Hannah immer aufgefallen. Die Mutter war unterwürfig und übergriffig zugleich. Vor allem gegen den eigenen Mann. Hannah hatte oft das Gefühl, dass er ausbaden musste, was die Männer verbrochen zu haben schienen. Später dann fiel das nicht weiter auf. Später war zur gesellschaftlichen Überzeugung geworden, was ihr in der Kindheit eine Besonderheit der Mutter zu sein schien. Ich bin eine Frau, ein Mädchen, ein weibliches Kind. Ich bin aus Deutschland. Von klein auf habe ich mich nicht davon ablenken lassen, ruhig erregt und ohne den Blick abzuwenden auf die Katastrophen zu starren und sie als solche zu erkennen. Es war auch niemand da, der versucht hätte, mich davon abzubringen. Zu drei oder vier Menschen unterhielt ich Gefühle, die sich kein Lebender leisten kann; ich nannte sie Liebe und Mitleid.
   © Acta litterarum 2009