Renate Solbach: Camera inversa
| Hannahs Traum 1/16
Kann
man Entsetzen gegeneinander aufwiegen, messen, katalogisieren? Wenn
etwas in der Person zerbricht? Der Riss. Die Sprünge. Leben in Angst
verwandelt ohne eigenes Erleben. Seit wann hatte ich mich bloß so verändert? Vielleicht waren es auch nur die Auswirkungen eines zu langen weiblichen Lebens. Das
Schweigen der Frauen dauert bis heute. Im Großen und Ganzen. Die neue
Beredsamkeit ist vom Schweigen grundiert. Erhebt sich über solch
schwankendem Grund. Wuchert und wabert im Gewande des Zeitgeistes.
Greift aus und ein. Hinter jedem Mann steht eine Frau. Lebensangst
außer Rand und Band geraten, nicht mehr einzufangen, paart sich mit
allem, was ihr begegnet. Schließlich warst du es, Hannah, die wieder
einmal ihre Assoziationen anschleppte. Glitzernde Scherben. Erlesen.
Das Judasschaf. In etlichen
Schlachthöfen hält man sich ein Judasschaf. Manchmal ist es auch eine
Ziege. Es steht bereits vor dem Schlachthaus, wenn der nächste
Lastwagentransport von Schafen ankommt. Das Judasschaf dreht sich um
und führt die Herde unfehlbar und klar auf eine Plattform, von da in
einen Betonhohlweg, über schmale Brücken, Abhänge hinunter, um Ecken
herum; die Schafe folgen und kommen so schließlich bei einer Tür an.
Das Judasschaf tritt jetzt zur Seite, die anderen Schafe gehen durch
die Tür und werden sofort betäubt, aufgehängt undsoweiter. Das
Judasschaf geht den Weg zurück und erwartet die nächste Herde.
Ein beeindruckendes Bild. Ein beklemmendes Bild. Ein Bild, das dem
ohnmächtigen Erleben entsprang. Ein schwieriges Bild. Trügerisch in
seiner Evidenz, betrachtete man es aus der Ferne, analysierte es. Vera
Wolle ist ein Schaf. So ähnlich stehts auch im Duden. Anne. Goebel.
Süddeutsche Zeitung. Was das Schaf zu blöken hat. Ein Schaf fürs Leben.
Sachbuch. Duden. Das neunundneunzigste Schaf. Das Judasschaf. Schreiben
ist absolut, etwas an sich Totalitäres. Zusammengewürfelte Funde im Internet.