Renate Solbach: Camera inversa
| Hannahs Traum 1/15
»Der
Traum war in einen Tagtraum übergegangen. Das Fenster überschüttete das
Bett mit mild trübem Licht. Hannah verwirrten sich die
Traumbilder immer mehr. Wer sollte sich in diesem Labyrinth noch
zurechtfinden? Es fehlte der rote Faden. Heillos! Jawohl, heillos irrte
sie dort umher. Das Erzählen sollte Abhilfe schaffen, und nun das. Nora
sollte die Fäden entwirren. Das war ihr Anteil an der Sache. Sie war
stark. Heiter war sie die ganze Angelegenheit angegangen, wie alles,
was sie anfasste, während Hannah sich immer gleich erregte. Das Ganze
nahm sie so mit.« – Nora wurde ärgerlich und machte eine Pause. Was für
eine dumme Person! Nun warf sie ihr auch noch vor, dass sie an diesem
Morgen guter Stimmung war. An allem trug nur dieser trügerisch blaue
Himmel schuld. Er wirkte so harmlos. Der Griff in die Tasten hatte
anderes zutage gefördert. Die Sätze, die da standen, waren nicht länger
ihre Sätze. Im Zusammenhang ihrer Sätze bekamen die der anderen einen
anderen Sinn. Doch das war nichts Besonderes. Vor allem kein Grund,
sich so aufzuplustern. War es ihr um Wahrheit zu tun oder nicht? Losgelöst
von den Vorstellungen und Bewertungen des Verstandes kommt man zu dem
Ergebnis, dass es im Grunde nichts gibt, das wirklich gewusst werden
kann, außer der Tatsache der eigenen Existenz. Wahrheit sei demnach auf
die simple Erkenntnis zu reduzieren, dass man existiere. In der
subjektiven Einsicht, nichts wissen zu können, liege daher die letzte
Wahrheit begründet, deren lebendiges Erkennen zu der unbeschwerten
Heiterkeit führe, von der die Mystiker seit Jahrtausenden berichtet
haben. Hannah im Land des fortgesetzten Schweigens. Eines
Schweigens, das seine Beredsamkeit ausstellt wie der Pfau sein Rad.
Geboren nach der Katastrophe, quälen dich Erinnerungen, die du gar
nicht hast, gar nicht haben kannst. Sie lodern im Schweigen der
Kindheit und produzieren erneutes Entsetzen, diffuse Ängste. Die Verwandlung ins Unsichtbare.