Renate Solbach: Camera inversa | Hannahs Traum 1/32
Es war ein strahlender Morgen. Noras Blick folgte den kleinen weißen Wolken, die ein munteres Spiel an dem einmütig blauen Himmel trieben. Noch immer dampfte der Kaffee neben dem Notebook. Die Aufgabe war von faszinierender Einfachheit, geradezu bescheiden. Nur Hannah rieb sich verwundert die Augen. ...war ich eigentlich heute morgen beim Aufwachen dieselbe wie gestern früh? Ich meine fast, ich bin mir da schon ein bisschen anders vorgekommen. Wenn ich aber nicht dieselbe bin wie gestern, wer um Himmels willen bin ich denn dann?

Post Scriptum: Ich bin eine Bewohnerin der Zwischen-Reiche. Keine Extreme bitte! Ich liebe die Dämmerung. Sie bietet Raum für alle Nuancen. Das Dunkel birgt Angst. Obwohl. Wo ist es noch so dunkel wie in der Kindheit? Licht? Sie suchen nach Licht? Die gleißende Helle zwingt, die Augen niederzuschlagen. Nun sagen Sie nicht, das diene der Innenschau. Innenschau hab ich genug gehabt. Auf Dauer gestellt verführt sie zum Wahnsinn. Solange es Stimmen hinter der Wand gibt, ist man in der Kindheit. Die Kindheit ist das Gefängnis – in mancherlei Sinn.
   © Acta litterarum 2009