Renate Solbach: Camera inversa
| Medeas Töchter 1/2
Kurz
nach Ertönen des Gongs verlöschte das Licht. Langsam verebbten die
Stimmen im Saal. Köpfe schoben und drehten sich. Körper rückten
in bequeme Stellungen, Hände falteten sich im Schoß, Arme legten sich
um Stuhllehnen, Blicke wanderten nach vorne. Ein letztes Räuspern und
Füßescharren. Der rote Samtvorhang zitterte leicht, ehe er langsam und
majestätisch nach links und rechts entschwebte. Der gewendete Blick
gehört zu den verdrehten Köpfen. Die Bühne war freigegeben.
Nora
hatte die Karten geschenkt bekommen. Zum Geburtstag. Das war auch schon
wieder drei Monate her. Ein wenig hatten sie gezögert an diesem Abend.
Nie spielte das Wetter mit. Andererseits... Die Stadt lag unter einer
weißen Decke, die eine milde Stille erzeugte und die Geräusche auf ein
Maß zurückfuhr, das die Grenze zwischen Realität und Zauber verwischte.
Bewegten sie sich wirklich in der Stadt oder befanden sie sich bereits
in den Kulissen? Die Werbetrommeln vibrierten noch von dem Getöse, die
Neuinszenierung, aber wie bereits gesagt, Nora hatte die Karten
geschenkt bekommen und einem geschenkten Gaul...