Renate Solbach: Camera inversa | Medeas Töchter 1/3
Sie gehörte nicht zu den Menschen, die sich durch solches Getöse verleiten lassen. Meist wurde man ohnehin nur elend enttäuscht. Doch wer weiß! Das Thema hatte seinen Reiz. In gewisser Weise war die Einstimmung perfekt gewesen. Sarah und sie hatten das Stück noch einmal gelesen, hatten endlose Diskussionen geführt – über Gott und die Welt. Nun ja, eigentlich war es eher ein Austausch der  Erinnerungen und so etwas wie ein Abgleich der gemeinsam verbrachten Jahre. Wie unterschiedlich dasselbe Leben aussehen konnte: Mutter oder Tochter. Sarah und sie hatten immer ein gutes Verhältnis gehabt. Was für irritierende kleine Szenen da plötzlich ans Licht getreten waren. Scheinbar vergessen und von einer prägenden Kraft, die man ihnen nicht zugetraut hätte. Ein eigenartiges Zusammentreffen eben im Foyer. Wieviele Jahre waren vergangen, seit sie Edgar das letzte Mal gesprochen hatte? Sarah hatte sofort wieder zittrige Hände und Flecken am Hals. Ausgerechnet heute Abend. So ein gestelztes Getue! Vielleicht war es ja nur eines seiner Spiele, die sie so gut kannte. Oder Verlegenheit? Sicher sogar. Immerhin musste er überzeugt sein, dass sie ihn nicht gerade in bester Erinnerung behalten hatte. War es einfach seine Art der Tatsache Ausdruck zu verleihen, dass das Band zerschnitten war? Was war denn auf der Bühne los? Es müsste doch längst begonnen haben. So ein Lärm! Ob ›Edgar‹ seinen großen Roman inzwischen fertig hatte? Kein Wunder, dass er heute auch hier war. Schließlich war es auf eine verquere und – ja, das konnte man wohl sagen – abgründige Weise sein Thema. Wahrscheinlich ging ihm der Hintern mit Grundeis, wie er immer zu sagen pflegte, früher jedenfalls. Manchmal konnte er daher reden wie irgendein Hansel von der Straße. Wenn man ihn hörte, vermutete man wirklich nicht, dass er Schriftsteller war.
   © Acta litterarum 2011